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Titelbild
Brigitte Endres (Text) und Susanne Straßer (Ill.):
Rositas große Reise
Berlin: Tulipan 2012
14 ungez. Bll
€ 14,95
Bilderbuch ab 4 Jahren

Endres, Brigitte: Rositas große Reise

Auch ein Schwein kann Schwein haben!

von Francis Vitalia Cuéllar Cassaretto de Kissel (2012)

 

Was soll ich sein? Und was will ich eigentlich sein? Diese Fragen sind für Menschen allemal relevant – in diesem Fall sind sie aber auch für ein kleines Schwein von Bedeutung. Das Ferkel Rosita wird von allen Tieren des Bauernhofs unter Druck gesetzt, dass es sich auf die „große Reise“ vorbereiten soll. Es gilt, genügend Speck vorweisen zu können. Rosita ist daran allerdings überhaupt nicht interessiert und möchte lieber das tun, was sie glücklich macht: „Kunststücke machen, springen und singen“. Auf dem Cover des beinahe quadratischen Bilderbuches „Rositas große Reise“ von Brigitte Endres (Text) und Susanne Straßer (Illustrationen) erscheint Rosita wie eine Zirkusdiva, die selbstbewusst und glanzvoll auftritt. In einem pastellgrünen Spotlight balanciert das schlanke Schweinchen mit einer der Vorderpfoten auf einer Wäscheleine, die sich bis auf die Rückseite des Buches spannt. Rosita lächelt den Leser betörend an, und ihre zwei kleinen Wimpern verleihen ihr einen Ausdruck von Glückseligkeit. Wegen ihrer ungewöhnlichen Vorlieben für akrobatische Bewegungen machen ihr die anderen Hoftiere das Leben schwer: „Rosita, dein Lebenszweck ist Schweinespeck“ sagt die Kuh. Der Hund ergänzt: „Feist und speckig sollst du werden. Schlag dir den Bauch voll! Sonst darfst du nicht auf die große Reise gehen“. Es ist offensichtlich, dass die anderen Tiere einfältig und angepasst sind. Sie wissen nicht, was die „große Reise“ eigentlich ist – und scheinbar wollen sie es auch gar nicht wissen. Rosita hingegen stellt sich quer. Dies steht in enger Verbindung zur Widmung der Autorin, die das Buch „für große und kleine Querköpfe, die sich nichts weismachen lassen“, geschrieben hat. Schon Rositas spanischer Name – ‚Röschen‘ auf Deutsch – lässt durchblicken, dass sie überhaupt nicht mit gewöhnlichen Schweinen vergleichbar ist. Sie ist die einzige, die fragt: „Wo geht die große Reise eigentlich hin?“ Eine sinnvolle Antwort bekommt sie nicht. Als die „große Reise“ dann endlich ansteht, freut sich das Ferkel doch. Und schon am nächsten Tag kommt ein Mann mit dicken roten Wangen und blutverschmierter Schürze – ein Fleischermesser ragt aus seiner Hosentasche. Doch Rosita erfüllt seine Erwartungen nicht: „Was soll ich mit dem dürren Borstenvieh?“ Und so bleibt das Ferkel allein, während die anderen Schweine im Viehtransporter sitzen und Rosita fröhlich mit einem weißen Taschentuch zum Abschied winken. Das Zunftwappen der Metzger auf dem Wagen gestaltet die seltsame Szene noch beklemmender: Jetzt wird auch den kleinen Lesern des Buches schwanen, dass die „große Reise“ nicht ins Paradies, sondern in den Schlachthof führt und Tod bedeutet. Rosita ist jedoch sehr gekränkt, dass sie nicht mitgenommen wird. Zwei Tiere fallen aus dem Ensemble der Hoftiere heraus: ein Küken und eine Mistfliege – der „Brummer“. Das Küken spielt eine besondere Rolle im Bilderbuch, weil es direkt nach seiner Geburt Rosita als Mutter ansieht. Die wiederum scheint dies überhaupt nicht zu bemerken und kümmert sich nicht um das Kleine. Trotzdem bleibt das Küken unverdrossen bis zum Schluss an Rositas Seite. Der Brummer weiß als einziger, um was für eine Reise es sich handelt: „Unsssereins kommt überall herum.“ Er repräsentiert Weisheit und Erfahrung und unterstützt Rosita, ihren Lebensweg weiterzugehen. Die Wichtigkeit dieser beiden Tiere wird auch durch deren mitunter überdimensional große Darstellung unterstrichen. Dann taucht Finn auf dem Hof auf: ein Vagabund mit Hut, Fiedel und langen Beinen – ein Taugenichts und Straßenkönig. Er begeistert sich für das kleine artistische Schwein, und auch Rosita ist von dem lustigen Fremden angetan. Für wenig Geld kauft Finn Rosita frei, und für das Ferkel beginnt eine ganz andere große Reise – eine Reise, die es nun endlich glücklich machen wird. Das makabere Element des Bilderbuches wir hier erneut aufgegriffen: Als Finn, Rosita und das Küken an einem Metzgerfenster vorbeitanzen, sieht man in dessen Auslagen „Schnitzel vom Schwein“. Wenn Rosita nur wüsste, was für ein Glücksschwein sie ist ... Der kleine Leser kann Genuss empfinden, wenn er Susanne Straßers aussagekräftige Bilder betrachtet. Auch die unkonventionellen Texturen und die vielfältig variierenden Farbwerte sind reizend: das Schottenmuster in den Zäunen oder auf Finns Hose, die Zebrastreifen an der Stalltür, auf den Taubenflügeln oder in Bäumen, das Stickmuster am Halsband der Kuh, die perlmutternen Blätter eines Baumes. Der Himmel ist tagsüber orangefarben und nachts dunkelgrün. Bei Außendarstellungen ist ein Element der Bildkomposition die Weite. So verschwindet der Stall in der Ferne, und das Bild weitet sich zur Totale. Dagegen befinden sich bei den Bildern, die das Innere des Stalls zeigen, meist schwarze Balken am Bildrand, die Enge produzieren und auch die Tiefe des Stalls betonen. Die Räume sind dabei nicht komplett ausgestaltet, sondern mit Fragmenten von Realität wie z.B. einer Mistgabel oder Apfelresten nur angedeutet. Dabei kann man die Fenster und Türen in teils unrealistischen Größenverhältnissen als Ausweg nach draußen verstehen: So sieht man beispielsweise auf einem Bild durch das Fenster den Sternenhimmel und einen Halbmond mit Schweinenase. Eine Ausnahme ist hier die Szene, in der Rosita alleine auf dem schlammigen Stallboden schläft und einige Tränen vergießt, weil sie zurückgelassen wurde. Es gibt hier keine Öffnung nach draußen, sodass der Leser Rositas Hoffnungslosigkeit mitfühlen kann. Den kleinen Lesern stellen sich nach der Lektüre wohl dieselben Fragen wie auch Rosita: Was soll ich sein? Und was will ich eigentlich sein? Das ist das Parabelhafte der Geschichte, dass jeder seinen eigenen Weg trotz möglicher Widerstände gehen soll, weil man am Ende Glück und Selbstverwirklichung erreichen kann. Zurecht wurde „Rositas große Reise“ als „Buch des Monats Mai 2012“ von der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur e. V. ausgezeichnet.

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