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Titelbild
Angelika Klüssendorf:
Das Mädchen. Roman
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2011
183 Seiten
€ 18,99
Kindle eBook: € 16,99
Junge Erwachsene ab 16 Jahren

Klüssendorf, Angelika: Das Mädchen. Roman

Was sie nicht umbringt, macht sie stark

von Johanna Wolff Metternich (2012)

„Scheiße fliegt durch die Luft“. Mit diesen Worten beginnt der ‚Kameraschwenk‘, mit dem Angelika Klüssendorf die Leser in ihre Geschichte „Das Mädchen“ hineinschubst. Erst verfolgt ‚die Kamera‘ die Flugbahn der stinkenden Geschosse und dann die Blicke der Passanten. Diese suchen die Umgebung nach der möglichen Ursache des ekelhaften Regens ab und finden diese schließlich im Fenster eines Mietshauses: das Mädchen, „sie“. Sie schleudert die Fäkalien auf die Straße.

Sobald die Menge sich zerstreut hat, richtet sich die volle Aufmerksamkeit auf das Mädchen. Was veranlasst sie zu dieser ungeheuerlichen Aktion? Das Mädchen ist mit seinem Bruder über Tage hinweg von der Mutter in der Wohnung eingesperrt worden. Zu essen gibt es viel zu wenig, die Toilette ist auf der halben Treppe ? also unerreichbar, und es gibt nichts, was die Langeweile vertreiben würde. Und so schlägt das Mädchen zwei Fliegen mit einer Klappe: Der inzwischen fast volle Eimer, der als Toilettenersatz herhält, wird geleert und die Eintönigkeit für einen Moment unterbrochen.

Im Grunde genommen steht schon diese kleine Episode exemplarisch für das Wesen der Protagonistin. Sie, deren Namen wir nicht erfahren – immer heißt es nur „sie“ oder „das Mädchen“ –, handelt. Doch ihr Handeln und sie selbst sind wie ihre Umgebung: verroht, oft grausam und ohne Moral. Das Mädchen ist Glied einer Kette, die das Ausbrechen in ein besseres Leben nahezu unmöglich macht. Die willkürliche Mutter, die sich selbst den „Zorn Gottes“ nennt, weil es ihr gefällt, dass niemand sicher vor ihr ist, beherrscht das Leben ihrer Kinder. Die Geschwister sind ihren sadistischen und brutalen Stimmungsschwankungen wehrlos ausgeliefert. Sie erniedrigt ihre Kinder, um dann über sie zu lachen, sie schürt deren Hoffnungen, nur um diese wieder zu zerstören. Sie schlägt sie, missbraucht sie und foltert sie. Sie sperrt sie ein und nutzt jede ihrer Schwächen zum Angriff. Und dennoch ist sie ihre Mutter, und auch sie ist wiederum den Launen des alkoholabhängigen Vaters und denen ihrer anderen „Liebhaber“ ausgesetzt. Und wie die Mutter, so lässt auch die Tochter ihre Aggressionen an Schwächeren aus. Zu Hause muss ihr Bruder herhalten, später im Heim sind es andere, schwächere Mädchen.

Doch es gibt durchaus auch Charakterzüge, die sie von ihrer Mutter unterscheiden und die sie eher mit dem Vater gemeinsam hat. Im Gegensatz zur Mutter raffen sich Vater und Tochter immer mal wieder auf und schöpfen Hoffnung auf Verbesserung. Sei es, dass das Mädchen sich in der Schule mehr anstrengt, wenn es einen Lehrerwechsel gibt; sei es, dass der Vater einen Alkoholentzug in Angriff nimmt. Doch jedes Mal scheitern sie früher oder später, da ihnen jegliche Unterstützung fehlt. Und noch etwas verbindet die beiden, und zwar die Liebe zur Kunst. Beim Vater ist es die Malerei, der Tochter hat es die Literatur angetan.

Wenn die Mutter das Mädchen nächtelang in den Keller sperrt, vertieft es sich in die Bände von „Brehms Tierleben“ mit seinen „bunten, wunderschönen Abbildungen von Insekten, Säugetieren, Fischen, Vögeln und Kriechtieren“. Es studiert jedes einzelne Tier und saugt die Informationen in sich auf. Die abgebildeten Tiere werden für das Mädchen, was die Farbpalette für den Vater ist. Sie betrachtet sie bei der Arbeit, bestaunt ihre Leistungen, verlebendigt sie und phantasiert sie hinein in ihre eigene Welt. Sie drückt durch sie ihre Gefühle aus oder erkennt in einer der Mitschülerinnen plötzlich eines der Tiere wieder. Entdeckt Brehm bei den Tieren Menschliches, so spürt das Mädchen im Verhalten seiner Mítmenschen tierische Züge auf.

Doch nicht nur das. In der Literatur findet das Mädchen eine erste Konstante, die zugleich einen Ausbruch aus der Beengtheit der Verhältnisse symbolisiert. Sie organisiert sich einen Bibliotheksausweis und hat so die Möglichkeit, auf legalem und geregeltem Weg an Lesestoff zu gelangen. Sie liest die gleichen Bücher wieder und wieder und verinnerlicht sie. Neben „Brehms Tierleben“ sind das vor allem „Grimms Märchen“ und Dumas‘ „Der Graf von Monte Christo“, der sie so begeistert, dass sie Kapitel für Kapitel in ein Heft abschreibt; über dessen Helden redet sie, als sei er ein alter persönlicher Freund. Wenn sie beim Lesen in ihre Lektüre versinkt, erlebt sie mit ihren Figuren etwas, das ihr sonst fehlt: Glück!

Neben der Literatur gibt – nach einem halbherzigen Selbstmordversuch – erstmals das Heim ein gewisses Gerüst. Hier trifft die Titelfigur auf andere Jugendliche mit ähnlichen Schicksalen. Und obwohl auch im Heim bei weitem nicht alles rosig ist, trifft sie hier zum ersten Mal auf einen geregelten Tagesablauf, kann altersgemäße Erfahrungen machen und ansatzweise sogar eine gewisse Zukunftsperspektive entwickeln.

Angelika Klüssendorf, die bisher vor allem durch ihre Kurzgeschichten bekannt wurde, hat diesen Roman, für den sie für die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2011 nominiert wurde, als erstes Buch einer dreiteiligen Serie konzipiert. Der Roman spielt in der DDR in den 1970er Jahren. Klüssendorf, selbst in der DDR aufgewachsen, aus der sie 1985 in die Bundesrepublik übersiedelte, bricht drastisch mit dem sozialromantischen Klischee, dass es im SED-Staat diese Art von Unterschicht niemals gegeben habe. Dennoch ist der Kern der Geschichte, die mit dem siebzehnten Geburtstag des Mädchens endet, nicht an Ort und Zeit gebunden und könnte sich auch heute so oder ähnlich in Köln oder Marseille oder jeder anderen Stadt abspielen.

Der Adoleszenzroman umfasst eine für dieses Genre ungewöhnlich lange Zeit von fünf Jahren. Die einfache Sprache, die episodenhaft verdichtete Erzählung, die stets an den Entwicklungsstand der Protagonistin angepasste Wahrnehmungsschilderung und die lakonische Beschreibung drastischer Situationen lassen den Leser unangenehm nah ans Geschehen heran. Dennoch bleibt er außen vor, wie hinter einer Glasscheibe – nur Beobachter. Dieses Gefühl von empathielosem Beobachten wird noch durch mehrere andere Faktoren hervorgerufen: Die Beiläufigkeit, die sich bereits im Titel manifestiert, prägt den gesamten Erzählstil. Durch die ausschließliche Verwendung des Präsens wird ein Reflektieren erschwert, der Erzähler berichtet in der dritten Person und bleibt dennoch so unmittelbar an der Hauptperson, dass Außen- und Innensicht oft nicht zu unterscheiden sind.

Der Roman lässt den Leser merkwürdig berührt zurück. Auch wenn mögliche Leserwünsche, sich in das Mädchen einzufühlen und mit ihm mitzuempfinden, durch den Erzähler immer wieder konterkariert werden, könnte die im Ende anklingende Normalität als Hoffnungsschimmer gewertet werden. Doch selbst eine solche Möglichkeit lassen die letzten Sätze in der Schwebe: „Sie hört einen Vogelschwarm, bevor sie ihn sieht, Wildenten, die Richtung Süden ziehen. Sie stellt sich vor, mit ihnen zu fliegen, egal wohin. Sie steigt schwerelos empor, betrachtet die Welt von oben, sieht sich selbst im Gras liegen, die Arme ausgebreitet, alles ist nah und doch so unendlich weit entfernt, sie fliegt höher und höher, bis sie ganz verschwunden ist.“

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