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Simon Schwartz:
Packeis
Berlin: Avant 2012
176 Seiten
€ 19,95
Graphic Novel ab 12 Jahren

Schwartz Simon: Packeis

Farbenlehre und die Kunst des Erzählens

von Robert Kamp (2012)


„Von Jahr zu Jahr zeigen die jungen Besucher weniger Achtung vor diesen kostbaren Exponaten.“ Matthew Henson (1866-1956) ist selbst ein ‚kostbarer’ Zeitzeuge – aus der Anfangszeit der Polarforschung. Allerdings blieb ihm zeitlebens die Anerkennung verwehrt, die ihm gebührt hätte: Henson wurde als Farbiger vom Erfolg ausgegrenzt. So arbeitete er als alter Mann als Hausmeister in dem Museum, in welchem Exponate auch seiner großen Entdeckung ausgestellt waren – unerkannt, einsam und vergessen.

Simon Schwartz erzählt in seiner zweiten Graphic Novel „Packeis“ in sprunghaften Episoden die Geschichte von Hensons Leben. Schwartz’ Veröffentlichungen wurden bereits mit einigen Preisen ausgezeichnet: Für „drüben“ erhielt der den Deutschen Jugendliteraturpreis, „Packeis“ wurde in diesem Jahr direkt nach Erscheinen als „Bester deutschsprachiger Comic“ mit dem renommierten „Max-und-Moritz-Preis“ bedacht.

Hensons abenteuerliche Lebensgeschichte nimmt im Jahr 1879 in Baltimore ihren Anfang: Als Afroamerikaner lebt er in einer Zeit, in der Rassismus und Zweiklassengesellschaft in den USA noch allgegenwärtig sind. Seine Eltern werden von Mitgliedern des Ku-Klux-Klan ermordet, und er heuert – als Jugendlicher und auf sich allein gestellt – auf einem Forschungsschiff nach Südamerika an. Rassistische Vorurteile verschwinden nur vordergründig, als er sich durch Belastbarkeit und Einfallsreichtum bewährt und schließlich von dem Polarforscher Robert Edwin Peary für weitere Expeditionen engagiert wird. Diese Expeditionen haben zum Ziel, erstmalig bis zum Nordpol vorzudringen. Henson lernt so auch die Welt der Ureinwohner Grönlands kennen. Der Älteste der Inuit-Gemeinde erkennt in ihm die sagenumwobene Gottheit „Mahri Pahluk“, die nach den Mythen dem Teufel „Tahnusuk“ gegenübersteht, welcher am Nordpol haust.

Der rücksichtslose Peary, der für seine persönliche Reputation im wahrsten Sinne des Wortes bereit ist, über Leichen zu gehen, beutet die Inuit und auch andere Expeditionsteilnehmer schamlos aus. Henson begegnet diesen zahlreichen größeren und kleineren Verbrechen stets mit einer Mischung aus Abscheu und Machtlosigkeit: Er weiß um seinen Stand innerhalb der Expeditionsteilnehmer und tritt so eher als ruhige, schadensbegrenzende Kraft im Hintergrund auf.

Am 6. April 1909 ist dann, nach mehreren gescheiterten Versuchen, das vermeintliche ‚Ziel’ erreicht: Einen von Henson vorbereiteten Pfad entlangschreitend, erreicht Pearys Expedition schließlich den Nordpol. Somit hat Henson diesen eigentlich vor Peary erreicht, was aber zu keinem Zeitpunkt der darauffolgenden Berichterstattung eine Rolle spielt. Erst viel später – und knapp dreißig Jahre nach Peary, der Hensons Rolle bei der Entdeckung stets verleugnet hat – erhält er ein Duplikat der Medal of Honor verliehen.

Das Werk behandelt eine grundlegende Problematik der diskursiven Praxis der Geschichtsschreibung: Stets gibt es mehrere, oft ideologisch und weltanschaulich geprägte Sichtweisen und Narrative, von denen sich meist nur wenige durchsetzen beziehungsweise erwünscht sind. Das tatsächliche Vorhandensein verschiedener Sichtweisen und Bewertungen wird in Schwartz‘ Graphic Novel durch die unterschiedlichen Erzählperspektiven verdeutlicht. Immer wieder springt die Erzählung zwischen dem ‚Damals’ und ‚Heute’, präsentiert Henson als alten, einsamen Mann, zeigt die fragenden Blicke seiner Weggefährten und seinen eigenen Blick im Spiegel: Der späte Henson wirkt gebrochen, hat den Kampf um Anerkennung aufgegeben – und scheint dies dennoch zu reflektieren. Neben der objektiven Perspektive auf die tatsächlichen Geschehnisse um den jungen sowie den alten Henson existiert zusätzlich die mythologische Sichtweise der Inuit, die aus einer subjektiven Perspektive des Schamanen Onkel Minik erzählt wird. Dadurch wird deutlich, dass die zur Hauptzeit der Handlung vorherrschende westlich-weiße Weltsicht keinen relevanten Platz für andere Kulturen, Hautfarben und Perspektiven einräumt. Auch auf gestalterischer Ebene grenzen sich diese zwei Erzählweisen in der Regel deutlich voneinander ab: Die Erzählungen von Onkel Minik sind verknüpft mit abstrakten, maskenartigen Abbildungen der jeweiligen Personen und voll eigentümlicher Symbolik. Es wird weniger Wert auf Realismus gelegt, vielmehr dominieren stark entfremdete ‚Kulissen’ und musterartige Hintergründe. Wenngleich die Sprache in „Packeis“ eher in den Hintergrund tritt – seitenweise kommt die Geschichte ohne Worte aus –, wird der religiös anmutende Charakter der Inuit-Legende durch eine bildhafte und poetische Wortwahl noch unterstrichen.

Hensons ‚eigentliche’ Geschichte wiederum wird aus einer auktorialen Perspektive präsentiert, wobei sein persönliches Erleben dennoch meist im Mittelpunkt steht. Sprachlich beschränkt sich dieser Teil auf recht authentische Dialoge und kommt ohne eine Erzählerstimme aus. Die Handlung wird hauptsächlich von den Dialogen vorangebracht, die Ausgestaltung der Szenen allerdings geschieht allein auf grafischer Ebene: Bildlich ist diese Erzählebene deutlich weniger abstrakt gestaltet. Wenngleich auch hier simplifiziert wird, wird zum Beispiel ein gewisses Augenmerk auf aufwändige, realitätsnahe Muster gelegt. Teilweise schneit vordergründig Schnee ‚über’ die Handlung, und mitunter verschwindet das gesamte Geschehen im Weiß der Arktis. Farblich beschränkt sich der Autor auf Schwarz, Weiß und Grautöne und setzt Akzente mit einem kühlen Blau. Dies verstärkt den Eindruck einer gewissen Düsterkeit, die über der ganzen Geschichte liegt, und der (physikalischen wie menschlichen) Kälte, die eine zentrale Rolle spielt.

Im Anhang liefert Schwartz neben einigen Skizzen noch eine umfangreiche, bebilderte Zeittafel und legt seine Quellen offen. „Packeis“ hält sich zwar nicht immer an die historischen Tatsachen, gibt aber den Kern der Geschichte anschaulich wieder.

Insbesondere durch die Gegensätzlichkeit der unterschiedlichen Erzählperspektiven und deren großartiger gestalterischer Umsetzung ergibt sich eine interessante und fragengeleitete Geschichte, die Leserinnen und Leser ab 12 Jahren gut unterhalten und auch über die eigentliche Handlung hinaus beschäftigen wird.