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Lorenz Pauli (Text) und Kathrin Schärer (Ill.):
Nur wir alle
Zürich: Atlantis 2012
30 Seiten
€ 14,95
Ab 4 Jahren
Bilderbuch

Pauli, Lorenz (Text) und Kathrin Schärer (Illustration): Nur wir alle

Gemeinsam unterwegs

von Verena Vortmann (2012)

Bevor die Geschichte beginnt, langweilt sich der Hirsch noch, und der aufmerksame Bildbetrachter sieht es ihm an. Nur gut, dass der Hirsch aus dem Wald heraustritt und zu einem Bach gelangt, an dem er die geschäftige Maus trifft.

Auf einem Ast, der über den ganzen Bach reicht, balanciert die Maus hin und zurück. „Was spielst du da?“, fragt der Hirsch und die Maus antwortet: „Ich mache meine Geschicklichkeitsübungen.“ Der Hirsch möchte mitmachen, denn zu zweit ist es schöner. Zuerst ist die Maus nicht einverstanden, aber dann finden die beiden einen Kompromiss und die Übung wird abgeändert. Sie heißt jetzt Trockene-Füße-behalten – aber nur, bis der Fisch auftaucht. Darf und kann der überhaupt mitmachen? Der Fisch hat eine andere Idee, was die Tiere zusammen machen könnten: Sie unternehmen eine Exkursion zum Ende des Baches. Gut, dass der Hirsch die Maus hat überzeugen können! Auf ihrem Weg treffen die drei auf die Elster. „Rechtsum kehrt! Wir drehen um!“, versucht die Elster das Kommando zu übernehmen, aber wer noch nicht einmal „Hallo“ sagt, darf nicht mitmachen: „Wir brauchen gar keinen Chef! Wir sind ein Team!“

Plötzlich entdecken die drei eine dunkle und vermeintlich gefährliche Gestalt und wollen schon flüchten, aber es ist nur das Erdmännchen, das vor dem in der Nähe wohnenden Bären warnt. Die gefährliche Stelle muss umgangen, der Bachlauf verlassen werden. Hirsch, Maus und Fisch scheinen den Ernst der Lage nicht zu begreifen. „Der Fisch ist schlecht zu Fuß. Und wir bleiben beim Fisch“, entscheidet der Hirsch. Das Erdmännchen aber ist erfinderisch: Der Fisch muss in einen Eimer umziehen, die Bärenhöhle wird großräumig umgangen. Doch dann spitzt sich die Lage dramatisch zu: Der Eimer hat ein Loch, der Fisch hat kaum noch Wasser und der Bach ist schon viel zu weit weg. Auch mit Pfoten und Hufen kann das Loch nicht gestopft werden – und nun taucht auch noch der Bär auf ...

„Nur wir alle“ ist das neueste von zahlreichen Werken, die Lorenz Pauli und Kathrin Schärer bereits in Zusammenarbeit gestaltet haben. Auch in diesem querformatigen Bilderbuch lassen Schärers Zeichnungen Paulis Text lebendig werden. Der junge Leser darf eintauchen in die Welt der Tiere. Dank der bildlichen Darstellung wird sein Blick hier über, dort unter die Wasseroberfläche gelenkt. Großformatige Detailzeichnungen nehmen das Geschehen mal aus der Perspektive der Maus, mal aus der des Hirsches in den Blick. Ob das Buch nun selbst gelesen oder vorgelesen wird: Bilder und Text ermöglichen eine Identifikation mit den Tieren der Geschichte. Nicht zuletzt liegt dies an der mitunter sehr menschlich anmutenden Mimik der Tiere: Wenn das Erdmännchen mit ängstlich aufgerissenem Maul um den Fisch bangt, hat die Darstellung verzerrte, beinahe karikierende Züge, derart überzeichnet ist die Mimik. Auch die sprachlichen Äußerungen von Maus, Hirsch, Fisch, Elster, Erdmännchen und Bär und ihre doch sehr menschlichen Charaktereigenschaften lassen beinahe vergessen, dass es sich um eigentlich wilde Tiere handelt.

Kathrin Schärer, in diesem Jahr für den Hans-Christian-Andersen-Preis für ihr Gesamtwerk nominiert, gestaltet ihre Bilder in einer Mischtechnik aus Kreidezeichnung, Aquarellmalerei, Frottage und Umrisszeichnung. Bewegung deutet sie unter anderem durch Speedlines an. Häufig bildet sie Details ab und präsentiert diese im Anschnitt. So erzielt sie auch dort eine räumliche Wirkung, wo sie nicht mit Vorder- und Hintergrund arbeitet. Überhaupt deutet sie den Hintergrund nur skizzenhaft an, mintunter verzichtet sie auch ganz darauf. In der Regel das linke Drittel einer Doppelseite wird von einem die bildliche Darstellung kontrastierenden Farbblock eingenommen; hierein sind jeweils die Texte platziert. Dieses Kompositionsschema wird bei zentralen inhaltlichen Veränderungen allerdings aufgehoben: Zum Tanzen etwa brauchen die Tiere eine Doppelseite. Der knappe Text ist hier in die Darstellung integriert und tritt ganz zurück.

Die Verzweiflung der Tiere, dem Freund Fisch nicht mehr helfen zu können, untermalt Schärer buchstäblich durch eine dunkle Farbgebung. Der Text ist ausgespart auf schwarzem Hintergrund, die Tiere sind in Grau- und Brauntönen gehalten. Als der Bär den Fisch in sein großes Maul rutschen lässt, erreicht die Geschichte ihren dramatischen Höhepunkt: Hirsch, Erdmännchen und Maus schreien erschreckt auf, die Gesichter sind verzerrt, der Hintergrund ist fast ganz schwarz. Erst als deutlich wird, dass der Bär den Fisch in den Bach spuckt und damit rettet, löst sich die Spannung auf. In den folgenden Bildern wird die Ausgelassenheit der tanzenden Tiere mit farbigen Speedlines verdeutlicht, es herrscht ein fröhliches Treiben, in dem selbst der zuvor gefürchtete Bär zum Spielkameraden wird.

Das Thema des Buches ist die Gestaltung von Gemeinsamkeit. Jedes Tier bringt eine eigene Idee für eine gemeinsame Aktivität in die Geschichte mit ein. Der Vorschlag wird zunächst angezweifelt, diskutiert – und schließlich wird ein Kompromiss gefunden, mit dem jeder der Beteiligten einverstanden ist. Das ist nicht immer leicht: Doch die Tiere gehen aufeinander ein und nehmen Rücksicht aufeinander, sie akzeptieren Unterschiede und stellen eigene Bedürfnisse zurück. Dafür aber bekommen sie auch etwas: eine ganze Menge Abenteuer und Spaß. Sie erkennen, wie wichtig Zusammenhalt und gegenseitiges Vertrauen ist. Nebenbei müssen die Tiere mit ihren vorschnellen Urteilen über die anderen aufräumen und sich mit Fremdbildern auseinandersetzen. So gefährlich, hinterhältig, heimtückisch und gemein wie zuerst vermutet ist das Erdmännchen gar nicht, der stumme Fisch überwindet sich und meldet sich zu Wort. Der Bär, vom Erdmännchen als dick, faul und unberechenbar charakterisiert, entpuppt sich sogar als Retter in der Not.

Immer wieder tritt der allwissende Erzähler aus der Geschichte heraus und betrachtet das Geschehen in einem Gesamtzusammenhang. Auf dieser Metaebene beginnt das Buch schon im Umschlaginnendeckel. Die Doppelseite mit Impressum und Titel zeigt, wie der Hirsch auf den Bach zugeht und die Maus wahrnimmt. Erst jetzt beginnt die eigentliche Geschichte. Auch macht der Erzähler auf dieser Ebene Vorausdeutungen: „Das ist für die Geschichte auch besser so.“ Und sogar die Elster, die Chef sein wollte und deshalb nicht mitmachen durfte, steht „lange nach dem Ende der Geschichte“ mit allen anderen im Wasser und macht sich aus Solidarität mit dem Fisch die Füße nass.

Paulis Sprache ist witzig und lebendig. Oft kommen die Tiere selbst zu Wort oder steuern ihre Gedanken bei. Der Leser entdeckt dadurch die unterschiedlichen Persönlichkeiten der Tiere: Der Hirsch ist geduldig und vermittelnd, die Maus vorlaut, das Erdmännchen sehr selbstbewusst, der Fisch zurückhaltend und der Bär beobachtet die anderen zunächst und bleibt im Hintergrund. Trotzdem und gerade weil die Tiere so unterschiedlich sind, bemerken sie, dass es viel mehr Spaß macht, gemeinsam etwas zu unternehmen. Jeder ist auf seine Art für diese Geschichte wichtig. Aus „einfach ich mit dir“ wird im Laufe der Geschichte: „nur wir alle“.

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