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Weihs, Sandra:
Das grenzenlose Und
Frankfurt am Main: Frankfurter Verlagsanstalt
188 Seiten
€ 19,90/ E-Book: € 12,99
Jugendbuch ab 16 Jahren

Weihs, Sandra: Das grenzenlose Und

„Die Sinnlosigkeit des Lebens“

von Sebastian kleine Siemer & Imen Kabass (2016)

Marie – dürr, blondes, zerzaustes Haar, „hier und da ein bunter Dreadlock“ – ist achtzehn Jahre alt und leidet an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Sie kann der Welt nichts abgewinnen, sieht für sich keinen Platz in ihr und ist sich sicher, sie muss ihrem Leben ein Ende setzen. Jedoch nicht aus Verzweiflung, ihr Selbstmordwunsch scheint ihr die logische Folge von ‚klaren Gedanken’, ein Zeichen der Verweigerung, der Ausstieg aus dem ihrer Ansicht nach furchtbaren Weltgeschehen. Nach einem Selbstmordversuch entkommt Marie nur knapp der Jugendpsychiatrie und lebt mit fünf Mädchen, die alle „eine gewisse Kaputtheit“ ausstrahlen, in einer betreuten Wohngemeinschaft.

Die unberechenbaren Wut- und Gewaltausbrüche von Maries Mutter – alkoholsüchtig, „hässlich“ und „böse“, wie Marie sie kennzeichnet, wenn Marie mal wieder von ihr getreten wird – hinterlassen einen enormen Schaden in Maries Innenwelt. Marie strebt danach, sich aus den Zwängen jener unschönen Erinnerungen zu befreien und bekämpft diese, indem sie sich selbst Verletzungen zufügt. Sie verwundet ihre Arme mit tiefen Schnitten, um den noch tiefer gehenden Schmerz der kindlichen Erlebnisse und Erinnerungen durch den körperlichen Schmerz im Hier und Jetzt zu verdrängen.

Mit ihrem unkonventionellen Therapeuten „Willi“ geht sie den Kuhhandel ein, ihr Suizidvorhaben zunächst auf Eis zu legen und sich innerhalb der nächsten zwölf Monate nicht „den Exitus zu verpassen“. Im Gegenzug dazu darf sie am selbstbestimmteren Leben der WG teilhaben und muss nicht in die Geschlossene zurück.

Im Vorraum von Willis Praxis begegnet Marie dem wenige Jahre älteren Emanuel, dem „Hurensohn“, wie Willi ihn nennt. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass Emanuels Mutter zu Lebzeiten als Prostituierte im Bordell seiner Oma Hilde, der „Puffmutter“, tätig gewesen ist. Bereits in frühen Kindheitsjahren verliert Emanuel seine Eltern und wächst ohne Erinnerungen an sie mit seiner esoterischen Schwester Lara bei Oma Hilde, einer distanzlosen, herzlichen, mit naturgegebener Würde geschmückten Frau, im damaligen Freudenhaus auf.

Marie und Emanuel verbindet ein betrübliches Unterfangen: Emanuel will leben, muss aber sterben, denn er hat einen inoperablen Hirntumor; Marie will sterben, aber muss zumindest vorübergehend leben. Emanuel will selbst über die Art entscheiden, wie und wann er stirbt; er möchte sich das Leben nehmen, bevor ihn der Krebs einnimmt, er möchte in Würde sterben. Anders als Marie hat er furchtbare Angst vorm Tod und bittet sie, ihm die Angst vorm Sterben zu nehmen. Sie willigt ein, unter der Bedingung, sich gemeinsam das Leben zu nehmen, an Maries in drei Monaten stattfindendem Geburtstag. Dieser Pakt soll jedoch anders ausgehen, als von beiden erwartet.

Dies sind die inhaltlichen Eckdaten des Debütromans von Sandra Weihs, und im ersten Moment befürchtet man vielleicht, an eine Erzählung zweier Existenzen geraten zu sein, die darüber weinen, wie schrecklich ihr Leben ist. Scheinbar belastend kommt hinzu, dass Maries Hobbies und Gedanken wie der 08/15-Bauplan eines „Emos“ klingen. Emotional instabile, alkoholkranke Mutter, Kind sucht die Schuld bei sich und beginnt, sich zu ritzen und hat – natürlich wie jeder überzeugte Emo – eine Version von „Gloomy Sunday“ von Rezso Seress auf dem Handy. Nicht zu vergessen der literaturaffine Anstrich, um sich selbst ein bisschen Intellektualität zu verschaffen. Doch dieser erste Eindruck täuscht, denn Marie ist krank, und die Geschichte von Marie und Emanuel hält wesentlich mehr bereit als das. Weder verlangen die beiden Mitleid von ihrer Außenwelt, noch haben wir es bei Marie mit einem wehleidig klagenden Mädchen zu tun.

Maries Kindheit wird auf erfrischende Weise nicht bis ins letzte Detail ausgeleuchtet, um ihre Motivation zum Freitod zu erklären. Vielmehr ist das Buch die Bestandsaufnahme einer jungen Frau, die sich selbst nicht als Teil der Gesellschaft sieht, weil sie ihrer Meinung nach „zu viel fühlt und denkt“.

Sandra Weihs hat Sozialarbeit studiert und arbeitet mit sozial benachteiligten Kindern, Jugendlichen und Familien. Diesem Umstand dürfte es sich verdanken, dass sie ihre Figuren so überzeugend zeichnet, dass deren Gedankengänge immer nachvollziehbar sind. Weihs erzählt aus der Sicht ihrer Protagonistin, der Leser übernimmt ihre ungewöhnliche Perspektive, beurteilt und betrachtet von ihrem Standpunkt aus, und es gelingt, ihre Motive und Bedingungen zu rekonstruieren. Die Autorin nutzt die Sprache, um die Auswirkungen von Maries Krankheit zu verdeutlichen. Die Schilderungen zwischen den Extremen lassen Maries Unsicherheit in der Welt spürbar werden. Maries und Emanuels philosophische Ausflüge werfen für die Adoleszenz typische, existenzielle Sinnesfragen auf und zeigen, wie komplex das Leben in ihrer Situation ist. Wo man in manch anderem Werk als passiv Außenstehender lediglich den Figuren zuhört, wird man hier vielmehr abgeholt und in den Bann der Dialoge gezogen.

Weihs Geschichte über die Begegnung von Marie und Emanuel ist bewegend, ohne jedoch aufdringlich emotional oder gar sentimental zu werden. Trotz des schwermütigen Stoffs, der uns hier vorgesetzt wird, stößt man hin und wieder auf eine wohltuende Portion Humor – vor allem dann, wenn wir uns mit Marie in Willis Gesprächszimmer vorfinden, auf einem seiner fünf verschiedenfarbigen Sofas sitzend, und ihm und seinen Schauspielkünsten, seinem Zynismus und Sarkasmus lauschen. Abgesehen von einer vorhersehbaren und etwas zu klischeehaften Wendung, der Wahl des wohl klassischsten aller Rettungsmotive, packt es einen, und die Erzählung nimmt den Leser mit auf eine schwindelerregende Reise an den Abgrund der Existenz – und wieder davon weg.

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