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Heidelbach, Nikolaus:
Rosel von Melaten
Hamburg: Atlantik, Hoffmann und Campe 2015
57 Seiten
€ 20,00
Illustriertes Kinderbuch ab 10 Jahren

Heidelbach, Nikolaus: Rosel von Melaten

Der Tod ist nicht das Schlimmste im Leben

von Gianna Dicke (2016)

Drei tote Kinder in drei Monaten, getötet von den eigenen Eltern, und jedes Mal ist ein kleines Mädchen in weißem Nachthemd und roter Krawatte am Tatort gesichtet worden. Soweit die Ausgangssituation von Nikolaus Heidelbachs illustriertem Kinderbuch „Rosel von Melaten“ – betitelt nach jenem mysteriösen Mädchen, einem Gespenst, dessen Zuhause der städtische Friedhof Melaten ist.

Die eigentliche Hauptfigur der Geschichte aber ist Georg, ein siebenjähriger Junge, der als einziger die Ereignisse nicht vergessen kann. Unbemerkt von seinen Eltern schleicht er sich Nacht für Nacht zum Friedhof, um das schreiende Geistermädchen zu suchen. Als er Rosel endlich findet, folgt er ihr fasziniert, und als sie ihm in die Arme fällt, lässt er sich mitreißen. Die Freundschaft, die sich zwischen den beiden entwickelt, überwindet die Grenze zwischen Leben und Tod. Für Rosel bezwingt Georg seine größten Ängste, er wacht über sie, und wenn er mit ihr gemeinsam in dem weichen Bett am Grunde ihres kleinen Grabes liegt, schmiegt sie sich an ihn, und er fühlt sich geborgen und gebraucht. „Rosel lag wie ein Dach über seinem Kopf und seinen Schultern. Eigentlich konnte er kaum erwarten, dass sie aufwachte, aber er rührte sich nicht. Es war zu schön, mit jemandem so zusammenzuliegen, auch wenn dieser Jemand ein Geist war.“

Die grausigen Visionen von denen Georg neben Rosel im Grab liegend heimgesucht wird, werden dem Leser auf ganzseitigen Bildern vor Augen geführt: Grotesk verzerrte Fratzen, herabsausende Prügel und grapschende Hände verweisen auf das Grauen hinter den harmlos wirkenden Fassaden. Doch um mit Rosel zusammen zu sein, steht Georg diese gruseligen Nächte durch. Schnell wird klar, das Grauen geht in dieser Geschichte nicht von den Toten aus, sondern von den Lebenden.

Gewalt gegen Kinder ist ein Thema, bei dem auch Erwachsene schlucken müssen. Sicher liegt darin der Grund, dass Heidelbachs neuestes Werk nicht in seinem Hausverlag Beltz & Gelberg erschienen ist, sondern als Geschenkbuch bei Hoffmann und Campe. Dennoch ist „Rosel von Melaten“ nicht nur beängstigend, sondern vermittelt auch Hoffnung. Gemeinsam gelingt es Georg und Rosel schließlich, einen Jungen zu retten, und auch wenn Georg dies mit dem Leben bezahlt, so bedeutet das für ihn kein Unglück: Er ist jetzt wie Rosel ein Geist, und keiner von beiden muss je wieder allein sein.

Was Heidelbach hier vorlegt, ist wahrlich keine leichte Kost, dennoch kann man nicht anders, als sich an der feinsinnigen Gestaltung des Gesamtkunstwerks zu erfreuen. Schon das Cover des Schutzumschlages spiegelt die inhaltliche Ambivalenz aus Beklemmung und Hoffnung wider: In einem sorgfältig eingerahmten Rechteck schwebt Rosel mit aufgerissenen Augen und gefalteten Händen vor einem nächtlichen Sternenhimmel. Über ihr wacht ein verschwommen lächelnder Mond. Der sattgelbe Hintergrund wird am unteren Ende der Seite von einem üppigen Rosenstrauch verdeckt, dessen rote Blüten rechts und links am Rahmen entlang ranken. Heidelbachs Illustrationen sind detailliert und atmosphärisch. Die drei gerahmten Bilder, die in den Prolog eingefügt sind, zeigen jeweils einen der Unglücksorte – menschenleer und nüchtern. Düster wirken sie, und nur wer genau hinschaut, sieht die Andeutungen des Todes, von dem der Text berichtet.

Mit der Einführung Georgs ändert sich die Perspektive. Nach der distanzierten Übersicht des Prologs wendet sich der Erzähler nun den beiden Kindern zu, und auch die Bilder werden im Folgenden subjektiver und persönlicher. Insgesamt überwiegen (wie häufig bei Heidelbach) blasse grau-blaue Farbtöne, und auch dort, wo warme, kräftigere Farben ein Bild dominieren, sind diese stets gebrochen. Die Bilder fangen die diffusen Lichtverhältnisse der Nachtgeschichte, vom fahlen Mondlicht bis zum schummrigen Licht der Straßenlaternen, gekonnt ein. Reine Fröhlichkeit und Unbeschwertheit gibt es in dieser Geschichte kaum. Kleine Lichtblicke sind die Tiere, die hier als Helfer und Verbündete der Kinder auftreten, wo Erwachsene entweder fehlen oder gar Gegner sind. Hier huscht ein Eichhörnchen über die Seite, dort steht ein prachtvoller rotbrauner Fuchs auf einer saftig grünen Wiese.

„Rosel von Melaten“ ist eine in jedem Sinne beeindruckende, entgeisternde Geschichte, die einen noch lange nach der Lektüre beschäftigt. Auch in den realistischen Bildern scheint das Surreale, Jenseitige präsent. Im Mittelpunkt jedoch steht die unbedingte, selbstgenügsame Liebe Georgs zu Rosel, die leicht schaurige Liebesgeschichte. Abgesehen von dem Prolog zeigt sich das reale Grauen eher punktuell; es wird in Georgs Traumbildern und Rosels Todesgeschichte angedeutet und sticht vermutlich vorrangig dem erwachsenen (Mit-)Leser ins Auge. Für Kinder versöhnlich erscheint die Illustration der letzten Buchseite: Der kleine Wilfried, dem Georg zuvor das Leben gerettet hat, sitzt mit Gipsarm und Zahnlücke, aber fröhlich lächelnd, zwei Finger zum Peace-Zeichen erhoben, auf seinem Dreirad.

Mit dieser Geistergeschichte mutet Heidelbach Kindern einiges zu, er schont sie nicht, doch er reicht ihnen mit Georg und Rosel auch die Hand, sich einem beängstigenden Thema vorsichtig zu nähern. Symbolisch zeigt sich die Vielschichtigkeit in der leitmotivisch wiederkehrenden Rose, die als Vignette in den Text eingelassen ist. Im Zentrum ihrer üppigen roten Blüte versteckt sich ein Totenkopf: Erfüllte Liebe und Tod sind hier kein Widerspruch.

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