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Ellen van Velzen:
Der Turm der Drachenlenker
Aus dem Niederländischen von Meike Blatnik
Hildesheim: Gerstenberg 2015
255 Seiten
€ 14,95
Kinderbuch ab 11 Jahren

van Velzen, Ellen: Der Turm der Drachenlenker

Vierhundertsechsundneunzig Drachen

von Elisa Hensen & Irina Timm (2016)

Einst ist das abgeschiedene Dorf inmitten eines Waldes von furchteinflößenden, ungeheuren Wesen mit brennend roten Augen belagert worden. Als die Dorfbewohner keinen Ausweg mehr gewusst haben, konnten nur die guten Geister sie noch retten. Diese haben zu Nari in ihren Träumen gesprochen und sie angewiesen, unzählige bunte Drachen zu bauen, welche die Dorfbewohner schützen sollten. Die Drachen bilden eine Art Brücke zwischen Himmel und Erde, so wird sich erzählt. Gute Geister werden vom Leben angezogen, während böse Geister über die Drachen gen Himmel entschwinden.

Ungeheuer hat schon seit langem niemand mehr zu Gesicht bekommen, und Naris Geschichte ist längst zu einer Legende geworden. Dennoch kümmern sich die Drachenlenker seit Generationen um die vierhundertsechsundneunzig Drachen, die an den schweren Holzbalustraden des Dorfes befestigt sind. Tagtäglich überprüfen die Drachenlenker Anzahl und Zustand der Drachen, holen diese bei schlechtem Wetter ein, reparieren sie, wenn einer beschädigt wird oder bauen einen neuen Drachen, falls einer verloren geht. Die Meinung der Dorfgemeinschaft über die Drachenlenker ist zwiegespalten: Ist es ihr Verdienst, dass dem Dorf seit Jahrhunderten kein Unheil mehr wiederfahren ist? Oder sind die Drachenlenker lediglich merkwürdige Einzelgänger, die einer Arbeit nachgehen, deren Nutzen nicht vorhanden zu sein scheint?

Der Protagonist und Ich-Erzähler Jani ist zwölf Jahre alt und lebt gemeinsam mit seiner Mutter und seiner Tante in diesem kleinen Dorf, welches von einem dunklen, furchteinflößenden Wald umringt ist. Die Drachen üben eine fast magische Faszination auf ihn aus. Als er dem ältesten Drachenlenker namens Alter Drache seine Begeisterung offenbart, lädt dieser ihn ein, seine Arbeit näher kennenzulernen. So wird Jani bald selbst zum Lehrling der Drachenlenker. Die endgültige Entscheidung für diesen Beruf fällt ihm nicht leicht, denn unter seinen Gleichaltrigen gilt er ohnehin schon als merkwürdig. Ein Drachenlenker zu werden, würde für ihn ein noch einsameres Leben bedeuten, denn die Drachenlenker leben abgeschottet in einem Turm, belächelt von den anderen Dorfbewohnern. Andererseits hat er unter den Drachenlenkern zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl, wirklich verstanden zu werden.

Die beiden Drachenlenker des Dorfes könnten nicht unterschiedlicher sein: Alter Drache ist ein sehr gutmütiger und freundlicher Mann, während Neuer Drache zunächst verbittert und distanziert erscheint. Letztendlich ist er die Figur, die im Rahmen der Geschichte den größten Wandel durchlebt. Als Alter Drache im Sterben liegt, sind Jani und Neuer Drache angehalten, allein miteinander zurechtzukommen. Die Erkenntnis, dass Jani seinem eigenen jüngeren Ich ähnelt, führt dazu, dass Neuer Drache seine persönliche Geschichte als Außenseiter offenbart. Sein Umgang mit Jani verändert sich von gemein zu beinahe überschwänglich liebevoll. Dieser Wandel erscheint zuerst beinahe etwas zu schlagartig, ist aber insofern nachvollziehbar, als dass sein verbittertes Auftreten lediglich einem Schutzmechanismus gleicht, welchen er sich insbesondere auf Grund von Anfeindungen und Hänseleien in seiner Kindheit angeeignet hat.

In der kleinen mittelalterlichen Dorfgemeinschaft, die Ellen van Velzen in ihrem Kinderroman „Der Turm der Drachenlenker“ beschreibt, kennt sich jeder beim Namen. Auffällig ist hierbei, dass einige dieser Namen der Natur entnommen sind. Der offensichtliche Bezug zu einem Objekt bzw. Tier, mit dem man automatisch bestimmte Eigenschaften assoziiert, hat den Effekt, dass diese auch den ersten Eindruck der Figur maßgeblich mitbestimmen. So heißt beispielsweise der Baumfäller ‚Baum’, was nicht nur auf seinen Berufsstand hinweist, sondern ebenso beinahe automatisch ein stereotypisches Bild eines hochgewachsenen, ‚robusten’ und etwas groben Mannes im Kopf erscheinen lässt.

Das farbenfrohe und detailreiche Cover der deutschen Ausgabe (Übersetzung von Meike Blatnik) des Gerstenberg-Verlags zeigt, ähnlich wie das Cover der niederländischen Originalausgabe, zahlreiche bunt gemusterte Drachen, die über dem Dorf schweben, das von einem dunklen, furchteinflößenden Wald umgeben ist. Somit kann das von Torben Kuhlmann illustrierte Cover auch als Fantasieanregung sowie Unterstützung zur Vorstellung des ungewöhnlichen Settings dienen.

Das Geschehen beginnt unmittelbar; zugleich wird die Frage aufgeworfen, ob draußen im dunklen Wald unheilvolle Kreaturen leben, die eine Gefahr für die Dorfbewohner darstellen. An mehreren Stellen des Buches wird die Existenz dieser Kreaturen suggeriert, jedoch folgt stets relativ zeitnah eine rationale Erklärung. Die endgültige Auflösung der Frage, ob dem Dorf tatsächlich eine reale Gefahr droht, und inwiefern die Drachen das Dorf beschützen, tritt im Mittelteil eher in den Hintergrund. Stattdessen liegt hier der Fokus auf Janis Gefühlswelt und seiner Ich-Entwicklung. In seinen Gedanken dreht sich alles darum, wie er mit dem abwehrenden Verhalten von Neuer Drache, seinen eigenen Ängsten und den Hänseleien der anderen Dorfkinder umgehen soll. Diese Sticheleien belasten Jani zwar, bringen ihn jedoch nicht so weit, sich zwanghaft anzupassen oder zu verändern. Obwohl er von Vielen für seine Ängstlichkeit und vermeintlich zu ausgeprägte Fantasie belächelt wird, beweist er zuletzt deutlich mehr Mut als die meisten anderen Figuren. Denn letztendlich findet er seinen ganz persönlichen Weg, da er sich von seinen Interessen leiten lässt, anstatt nach Beliebtheit zu streben.

Die Geschichte eines jungen Außenseiters, der es letztendlich doch schafft, sich zu etablieren und die eines abgeschiedenen Dorfes, das einer Bedrohung ausgesetzt ist, mag vielleicht nicht neu sein. Dennoch, das Ende ist eine wahrliche Überraschung. 

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