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Tamaki, Mariko und Jillian:
Ein Sommer am See
Aus dem Englischen von Tina Hohl
Berlin: Reprodukt 2015
317 Seiten
€ 29,00
Comic ab 13 Jahren

Tamaki, Mariko und Jillian: Ein Sommer am See

Der Kindheit entschwommen

von Theresa Kistner & Melanie Wüst (2016)

Der atmosphärisch dichte Adoleszenzcomic „Ein Sommer am See“ von Jillian und Mariko Tamaki handelt von Rose Wallace. Diese fährt seit ihrer Kindheit im Sommer mit ihrer Familie in das Häuschen am See und verbringt dort ihre Zeit mit der lebhaften Windy, ihrer Ferienfreundin.

Windy, die anderthalb Jahre jünger ist als Rose, verlebt die Ferien dort mit ihrer esoterischen Adoptivmutter in einem Haus in der Nähe. Das quirlige Mädchen sehnt die Zeit mit Rose herbei, um mit ihr zu spielen, zu quatschen, sich den Bauch vollzuschlagen oder träge Zeit am Strand zu verbringen. Sie leihen Horrorfilme in dem Dorfladen aus, in dem Duncan arbeitet, der von Windy „die Niete“ genannt wird.

Rose spürt in diesem Sommer zum ersten Mal den Altersunterschied zwischen sich und Windy: Rose sind nicht mehr so sehr die kindlichen Spiele, Albernheiten und ihrer beider Zweisamkeit wichtig, sondern Anderes lenkt ihre Aufmerksamkeit auf sich, vor allem die Jugendlichen aus Awago Beach wecken ihr Interesse und hier insbesondere Duncan. Die unterschiedliche Feriengestaltung unterstreicht das Auseinanderdriften der Mädchen einmal mehr: Windy zeigt Rose nach ihrer Zeit im „Gaia“-Musikcamp enthusiastisch die gelernten Tänze, wohingegen Rose vom Kunstprojekt ihrer Mutter an der Uni erzählen kann.

Roses Mutter Alice fällt es in diesem Jahr schwer, die Ferien und ihren dort hinein fallenden Geburtstag mit der Familie zu genießen, hatte sie hier vor einem Jahr doch ihr ungeborenes Kind verloren. Dieses Erlebnis belastet sie noch sehr. Vielleicht auch deshalb kommt ihre Schwester Jodie mit ihrem Partner Daniel zu Besuch. Im Verlauf verstärken sich die Unstimmigkeiten zwischen Alice und den anderen, denn Alices herumalbernder Mann Evan kann nicht gut mit der Traurigkeit seiner Frau umgehen, und er wünscht sich nichts mehr, als eine entspannte Zeit mit seiner Familie. So verlässt er sogar das Haus für einige Tage und lässt Rose mit ihrer Mutter in der belastenden Situation allein. Rose ist unsicher, woraus die Unstimmigkeiten in ihrer Familie resultieren und befindet sich permanent in einem Gefühlschaos zwischen Traurigkeit und der Euphorie des Sommers.

Die aus Roses Perspektive erzählte Geschichte gibt in kurzen Blocktexten einen Einblick in die Erinnerungen und das Innenleben ihrer selbst. Mariko und Jillian Tamaki haben hier einen wunderbaren Comic geschaffen, der nicht nur durch viel Einfühlungsvermögen und Detailgenauigkeit begeistert, sondern auch die beherrschenden Themen der Adoleszenz aufgreift: das langsame Auseinanderdriften von Interessen beim Erwachsenwerden, den allmählichen Abschied von liebgewonnenen Gewohnheiten der Kindheit, das Gewahrwerden, dass dauerhafte Sorglosigkeit nur eine Illusion ist: Können die Mädchen sich die Hände vor die Augen halten, wenn sie einen Horrorfilm ansehen, kann Rose dem Horror des Alltags, dem Streit in der Familie nicht entfliehen.

Visuell arbeitet der Comic mit verschiedenen zeichnerischen Techniken, die sich gelungen ergänzen und ein stimmiges und harmonisches Gesamtbild ergeben, welches ästhetisch ansprechend wirkt und die Atmosphäre der Geschichte unterstreicht. Durch die simplen, aber realistischen Zeichnungen wirkt der Comic ausdrucksstark. Die Blauschattierungen, anstelle des üblichen Schwarz-weiß-grau, greifen damit das zentrale Motiv des Wassers auf. Durch das Zusammenspiel von Stil und Farbwahl wird die besondere Stimmung unterstützt, die den Leser sofort gefangen nimmt.

Als ein Beispiel für die Symbolträchtigkeit der verschiedenen Motive, die der Comic beinhaltet, wären hier Kieselsteine zu nennen. Diese kommen auf mehreren Bildern im Verlauf der Geschichte immer wieder vor, sind aber erst mit dem Wissen um ihre Bedeutung zu interpretieren. Rose hat im Sommer drei Jahre zuvor mit ihrer Familie zweihundert Kieselsteine gesammelt und diese auf der Veranda zu einem Kieselwall gestapelt. Diese Kieselsteine werden mehrmals im Verlauf der Geschichte aufgegriffen und meist nur im Hintergrund gezeigt, besonders dann, wenn die Eltern sich streiten oder etwas anderes negatives passiert. Rose denkt, dass sie so etwas, wie das Sammeln der Kieselsteine, nicht mehr mit ihrer Familie erleben wird und dass sie schon zu alt dafür sei. Als die Familie am Ende der Geschichte abreist, sieht man, dass Rose ihre Kieselsteine, und so auch ihre Kindheit, in diesem Jahr in dem Ferienhaus in Awago Beach hinter sich lässt.

In diesem Coming-of-age-Comic wird deutlich, dass individuelle Fokussierungen auf Details dem Leser unterschiedliche Gewichtungen erlauben, wie Themen und Motive interpretiert werden können. Somit werden eine Offenheit und ein aktives Einbringen von Vorstellungen möglich, die diesen Comic besonders auszeichnen und dadurch auch für diejenigen empfehlenswert erscheint, die sich bisher noch nicht auf dieses Genre einlassen konnten.

Mit diesem Buch lässt sich – zum Beispiel an einem gemütlichen Nachmittag am See – nicht nur ins Wasser, sondern auch in die Geschichte von Rose eintauchen, in der sie merkt, dass sie und ihr Leben sich langsam verändern, andere, neue Dinge wichtig werden, und sie von ihrem kindlichen Selbst langsam immer mehr loslässt.

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