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Lukas Hartmann:
Mein Dschinn
Zürich: Diogenes 2014
200 Seiten
€ 16,90 / Kindle Edition € 14,99
Kinderbuch ab 10 Jahren

 

Hartmann, Lukas: Mein Dschinn

Gute Geister gibt es, wenn man an sie glaubt 

von Petra Wenderdel-Türk  (2014)


„Es war ein Novemberabend. Draußen goss es wie aus Kübeln. Ich holte aus dem Wandschrank eine gelbe Regenpelerine, zog sie an und ging einfach weg. Nur etwas nahm ich mit: Tamas Briefe, die steckte ich in die hintere Tasche meiner Jeans.“ Lars ist elf Jahre alt, als er eines Abends aus dem Heim, in dem er lebt, flieht. Nur mit den zwei Briefen seiner Mutter Tamara bestückt, die ihm als letzte Erinnerungen geblieben sind, macht er sich auf den Weg. Er will „Tama“ suchen, endlich wieder bei ihr sein, weil er sie so sehr vermisst und sich in dem Heim unter der Leitung des neuen Gruppenleiters missverstanden und nicht ernst genommen fühlt. Er ist bereit, bis nach Indien zu gehen, denn von dort hat Tama ihre letzten Briefe gesendet.

Als er völlig durchnässt an einem Autobahnzubringer auf eine Mitfahrgelegenheit wartet, hält endlich ein Lieferwagen an. Ein Mann steigt heraus. „Er war groß und trug einen schwarzen Mantel, der bis zum Boden reichte, dazu einen schwarzen Hut mit breiter Krempe. Ob er alt oder jung war, konnte ich nicht erkennen, aber etwas an seiner Haltung erinnerte mich an meinen Großvater.“ Die Erinnerung an seinen geliebten Großvater bewegt Lars, zu Kol – so nennt sich der Mann – ins Auto zu steigen. Der Großvater war die zentrale Bezugsperson in Lars‘ Leben; bei ihm lebte er, nachdem seine Mutter gegangen war. Als der Großvater starb, kam Lars ins Kinderheim, da sich sonst keiner um ihn kümmern konnte; sein leiblicher Vater hatte sich schon lange vorher aus dem Staub gemacht. Im Heim hatte Lars zu Anfang noch Besuch von Aarian bekommen, einem Freund seiner Mutter. Aber irgendwann zog sich auch er aus Lars‘ Leben zurück, so dass der Junge am Ende auf sich allein gestellt war.

Bei Kol angekommen, kocht dieser ein Abendessen mit indischen Gewürzen, deren Geruch Lars an eine Zeit erinnert, als er noch mit seiner Mutter zusammenlebte. Lars kann Kol überreden, dass er die Nacht bei ihm verbringen darf und nicht zurück ins Heim muss. Nachdem der Nachtisch verspeist ist und Lars seinem Gastgeber die beiden Briefe seiner Mutter vorgelesen hat, rührt Kol in einem Kupfertopf verschiedene Gewürze und Flüssigkeiten zusammen. Die Oberfläche des Gebräus scheint silbrig, fast wie ein Spiegel. Lars soll in diesen hineinschauen und dabei an seine Mutter denken: „Da geschah mit dem Spiegel etwas Seltsames. Die Oberfläche zersplitterte, es bildeten sich Hunderte von feinen Rissen darin. Dann fügten sich die Scherben wieder zusammen.“ Das, was Lars dann sieht, kann er kaum glauben: seine Mutter Tama inmitten von anderen Frauen. Kol klärt Lars auf, dass der Ort, an dem sein Mutter sich befindet, in Rom sei. Mit dieser aufregenden Information legt Lars sich schlafen. Doch mitten in der Nacht wird er wach und sieht das Haus umstellt von Polizisten. Kol packt den Jungen und fliegt mit ihm wie von Zauberhand durch die Nacht nach Rom.

Lukas Hartmann lässt in „Mein Dschinn“ seinen Protagonisten dessen Geschichte zwei Jahre später aus der Rückschau erzählen. Am Anfang erläutert Lars seinen Lesern, was ihn zu seiner Erzählung bewogen hat: Tama und sein Deutschlehrer hätten ihn ermutigt, seine Erlebnisse aufzuschreiben. Schon diese ersten Sätze zeigen bereits deutlich, dass es sich bei „Mein Dschinn“ um ein Kinderbuch handelt: Dem kindlichen Leser wird direkt nahegebracht, dass es Lars gut gehe und er wieder mit seiner Mutter zusammen sei. Wir erfahren zudem von den Zweifeln seines Deutschlehrers, dass Kol ein Dschinn ist. „Wer war dieser Kol?“ ist eine Frage, die den ganzen Roman hindurch offen bleibt – und auch nicht gelöst werden wird. Lars’ einleitenden Worten entnehmen wir noch zwei weitere Hinweise: Die für einen Kinderroman typische lineare Erzählanlage wird mit der Mahnung des Lehrers motiviert, „alles schön der Reihe nach zu erzählen“, die für einen (nunmehr) Dreizehnjährigen erstaunliche Textsicherheit mit korrigierenden Eingriffen des Lehrers.

Als Lars nach der ‚Entführung’ wieder zu sich kommt, findet er sich im Gras liegend in Rom – er erkennt den Park aus dem Kupfertopf vom Vorabend; von Kol fehlt allerdings jede Spur. Lars wird von einem Jungen gefunden, der sich als Amando vorstellt und ihn mitnimmt, um andere Kinder zu treffen. Wie sich herausstellt, arbeiten alle diese Kinder für einen Mann namens Barani. Auch wenn Lars ihre Sprache nicht immer versteht, wird ihm schnell klar, dass es keine Freude ist, für diesen Mann arbeiten zu müssen. Am selben Abend noch lernt Lars den bulligen, elegant gekleideten „Chef“ kennen. Der „böse Barani“ befiehlt dem Jungen, sich im Stehlen zu üben, schließlich müsse er sein Essen verdienen. Lars’ anfängliche Weigerung weiß Barani mit seiner Bemerkung, auch er sei auf der Suche nach Lars‘ Mutter, ins Leere laufen zu lassen.

Die Zeit vergeht, doch es gibt keine Spur von Tama. Daher beschließt Lars, das Barani-Camp zu verlassen. In seiner Angst, dass Barani ihn erwischen könnte, fallen ihm plötzlich Kols Worte ein: „Und wenn irgendwas ist, dann ruf einfach nach mir.“ Und genau das macht Lars. Plötzlich gibt es „etwas Ähnliches wie einen Luftwirbel, der von oben kam und von innen schwach flimmerte wie eine kaputte Lampenröhre. Allmählich wurde das Licht ruhiger, es nahm die Form eines Menschen an, und dieser Mensch war Kol.“ Kol erteilt Lars Ratschläge und versichert dem Jungen, dass Barani ihn nicht fangen werde.

Auf seiner Flucht wird Lars von Suni begleitet, einem der Mädchen aus dem Camp. Sie spricht sogar ein wenig deutsch und hat es satt, weiterhin für Barani zu arbeiten. Nach Stunden des Gehens mit unbestimmtem Ziel übernachten die beiden in einer verlassenen Scheune. Als Lars aufwacht, zeigt das Mädchen angsterfüllt auf einen Mann, dessen Anblick bei Lars jedoch pure Freude auslöst: Es ist Aarian, und er weiß sogar, wo sich Tama befindet. Also machen die drei sich auf den Weg zu ihr. Lars kann es kaum glauben, seine Mutter alsbald wiederzusehen. Doch das Wiedersehen mit seiner Mutter hat sich der Junge schöner vorgestellt: Tama erkennt ihren Sohn nicht. Sie hat vor geraumer Zeit ihr Gedächtnis verloren und kann sich an nichts und niemanden mehr erinnern. In dem Versteck, in dem Aarian und Tama untergeschlüpft sind – Tama wird von ihrem Guru Govinda gesucht, für den sie Drogen verkauft hat –, halten sich noch zwei weitere Männer auf, die Lars für Bewacher hält. Am nächsten Morgen zeigt sich Lars ein schreckliches Bild: Tama ist von den ‚Bewachern‘ entführt und Aarian gefesselt worden. Ab diesem Punkt überschlagen sich die Ereignisse. Der Leser wird durch eine Fülle von Augenblicksspannungen an das Geschehen gefesselt, mit der Verlagerung des Abenteuergeschehens nach Indien wechselt ein exotischer Ort mit dem nächsten, und wenn der Leser glaubt, einer Befreiung Tamas stünde nun nichts mehr im Wege, türmen sich neue Hindernisse auf, die mit Scharfsinn, Mut, Schnelligkeit und mitunter übersinnlicher Hilfe beseitigt werden. Alles endet in einem nervenaufreibenden, hochdramatischen Show-down zwischen Kol und Govinda, das die Grundlage schafft für eine Wiedervereinigung der Getrennten und ein glückliches Happyend.

Insgesamt weist Lukas Hartmanns Abenteuerroman „Mein Dschinn“ viele Merkmale eines traditionell erzählten Kinderromans auf, die dem jungen Leser die Chance geben, trotz zweihundert Seiten Umfangs dem Geschehen weitgehend problemlos folgen zu können: Neben einer Einteilung in zwölf übersichtliche Kapitel, die jeweils mit stark voraussagenden Überschriften betitelt sind, finden sich in der Geschichte viele Wiederholungen, gibt es oftmals Hinweise auf das Folgegeschehen und wird die teilweise große Spannung nicht allzu lange aufrechterhalten, sondern schnell gelöst. Die auf den kindlichen Leser abgestimmte Darstellungsweise auf der erzählerischen Ebene harmoniert aber oftmals nicht mit der inhaltlichen. Diese ist an manchen Stellen doch recht voraussetzungsreich und übersteigt deutlich den kindlichen Erfahrungshorizont durch das Einbetten einer Fülle von sozialen Problemlagen und vor allem, wenn es um die Vergangenheit von Lars’ Mutter geht, schließlich ist diese jahrelang heroinabhängig gewesen und hat sich als Drogenkurier verdingt. Auch sprachlich liest sich die Geschichte nicht immer wie von einem Dreizehnjährigen erzählt. Es kommt ein teilweise altkluger Unterton durch, der problematisch ist, fungiert Lars doch als Reflektorfigur für den kindlichen Leser. An vielen Stellen wirkt der Roman belehrend. Dabei werden leider auch Aspekte so zurechtgestutzt, dass sie für Kinder handhabbar sind. So wird beispielsweise geschildert, dass Lars’ heroinabhängige Mutter während ihrer Schwangerschaft aufgehört habe, Drogen zu nehmen, nach der Geburt ihres Sohnes aber sofort wieder rückfällig geworden sei. Dabei ist allgemein bekannt, dass es kaum einem Drogenabhängigen möglich ist, seinen Konsum von heute auf morgen einzustellen. Bedenklich sind auch die vielen stereotypen Bilder, die Kolorit und soziale Aspekte vermitteln sollen, aber dennoch einen deutlich markanten Beigeschmack haben, etwa in der Darstellung der „Zigeunerkinder“ oder des Lebens in einem Ashram.

Gerundet wird das Werk am Ende durch einen Rückbezug auf die einleitende Passage. In einer ebenfalls Lars zugeschriebenen Schlussbetrachtung „Kein richtiges Nachwort“, die u. a. ein kurzes ‚Sequel’ zur Geschichte bietet, rechtfertigt Hartmann die elaborierte Sprache, die er seinem Protagonisten in den Mund legt, indem er Lars über Komplimente für seinen Sprachgebrauch reden („Alle meinen [...], ich sei der geborene Schriftsteller, und sie staunen über meinen Wortschatz“) und ihn erklären lässt, weshalb er keinen ‚jugendlichen’ Sprachduktus pflegt: Sein Deutschlehrer habe ihn überzeugt, „die 34 ‚cool‘ und die paar ‚mega‘, die vorher drin standen, wegzulassen. So viele ‚cool’ würden einen ganz nervös machen, hat er gesagt. Und außerdem sei die ganze Geschichte doch schon ziemlich cool.“ Auch die Frage nach dem Wesen Kols wird noch einmal aufgegriffen: Der Verlag habe auf eine Erklärung gedrängt, aber: „Das weiß ich ja selbst nicht genau. Er war auf jeden Fall ein guter Geist. Und gute Geister gibt es, wenn man an sie glaubt.“

Lukas Hartmanns hat mit „Mein Dschinn“ einen Abenteuerroman geschrieben, dessen Protagonist zeigt, wie stark und selbstständig Kinder werden können, wenn sie ein Ziel haben. Lars schafft es durch seine Stärke und seinen Willen, seine Mutter wiederzufinden und, indem er ihre Schwäche kompensiert, wieder mit ihr zusammenzuleben. „Mein Dschinn“ ist ein Abenteuerroman, der durch die realistische Beschreibung der Umgebung, gerade auch seiner exotischen Schauplätze, und durch seine phantastischen Elemente, die vor allem durch die Figur des Kol erzeugt werden, Spannung erzeugt und dem kindlichen Leser Freude bereiten kann. Aber er hat ebenfalls viele Unbestimmtheitsstellen und bringt Fragen und Probleme mit sich. So etwa ist es verwunderlich, dass Lars trotz seiner Selbstständigkeit oftmals sehr blauäugig ist, weshalb er auch von Aarian und Kol nicht immer ernst genommen wird, die ihm durchgehend substantielle Teile der Geschichte seiner Mutter verheimlichen. Auch die Tatsache, dass Kol immer dann ins Spiel kommt, wenn die Geschichte stockt und nur durch seine Künste das Geschehen weiterlaufen kann, lässt das Ganze doch stark konstruiert erscheinen. Dass Lars’ Mutter ausgerechnet durch einen erneuten Schlag auf den Hinterkopf ihr Gedächtnis wiederfindet, ist zumindest verwunderlich. Vor allem aber problematisch ist es – gerade in Anbetracht der Zielgruppe –, dass nicht aufgelöst wird, wer Kol nun wirklich ist. Gleichwohl wird dem kindlichen Leser in Hartmanns Roman verdeutlicht, dass man seine Ziele erreichen kann und dass es immer Menschen gibt, die einem positiv zugewandt sind.

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