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Kirsten Boie
Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen
Illustriert von Regina Kehn
Hamburg: Oetinger 2013
112 Seiten
€ 12,95/ E-Book: € 9,95
Illustriertes Jugendbuch ab 14 Jahren

Boie, Kirsten (Text) und Kahn Regina (Illustration): Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen

Nicht trauriger als die Wirklichkeit

von Anika Straub (2014)

Kirsten Boie nimmt den Leser in ihrem neuen Buch „Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen“ mit nach Afrika, in die Welt von Swasiland. In vier unterschiedlichen Geschichten bekommt der Leser Einblick in das Land und das Leben der Menschen. Die Geschichten sind durchgängig im Präsens geschrieben und erinnern dadurch sehr stark an die oral geprägte afrikanische Erzählkultur. Dadurch wird eine größere Nähe zum Leser geschaffen, und er bekommt das Gefühl, unvermittelt Zeuge der Geschehnisse zu sein.

Kirsten Boie schildert den ganz normalen Alltag ihrer Protagonisten, und es sind immer Kinder, die sie als Sprachrohr wählt. Sie gibt deren Sicht auf die Ereignisse und auf alltägliche Situationen wieder, in ihren Gedanken scheinen die großen grundlegenden Schwierigkeiten des Landes und seiner Menschen auf. Boie selbst hält sich sehr zurück, sie kritisiert und problematisiert nicht. So ist der Leser angehalten, sich seine eigenen Vorstellungen und Meinungen zu bilden, denn Boie lässt ihn an den Begebenheiten teilhaben, ohne diese schon an westlichen Maßstäben gemessen und verpackt zu haben. Diese gefühlte Involviertheit des Rezipienten ist typisch für die afrikanische Erzähltradition und weckt insbesondere die Empathie- und die Identifikationsfähigkeit des Lesers, auch wenn dieser aus einem ganz anderen Kulturkreis stammt. So erzeugt Boie durch ihr ungeschöntes Erzählen ganz leise und unaufdringlich Erschütterung.

Die vier kurzen Erzählungen bieten trotz des gemeinsamen Hintergrundes sehr unterschiedliche, immer persönlich geprägte Geschichten. Ihnen gemein ist, dass die kindlichen Protagonisten ihre Eltern durch Aids verloren haben und für westliche Verhältnisse ungewöhnlich früh Verantwortung für sich und andere übernehmen müssen. Schon in ganz jungen Jahren sehen sie sich mit Schwierigkeiten und Problemen konfrontiert, die sie vorzeitig erwachsen werden lassen. Sie leben in einer Umgebung, die von Armut, Krankheit und vor allem Perspektivlosigkeit geprägt ist. Sie legen ihre Leben vertrauensvoll in die Hände anderer – seien es die Geister, der Herr Jesus Christus oder seine Majestät, der König, dessen Erlasse und Verordnungen, mögen sie auch noch so absurd sein, nicht in Frage gestellt werden. Es wird alles so akzeptiert, wie es ist. Auch die Sicht auf die Weißen ist von verklärter und beschönigende Naivität: Für die Protagonisten sind sie reiche Menschen aus fernen Ländern, die unvorstellbar viel Geld besitzen und deren Mildtätigkeit keine Grenzen kennt.

Auch Lungiles Geschichte spielt vor diesem Hintergrund. Sie gewährt dem Leser in „Jabus Schuhe“ Einblick in ihre Welt. Lungile ist ein Mädchen, das sich aus einem kleinen abgelegenen Dorf in den Hügeln auf den Weg in die nächstgrößere Stadt aufmacht, um für ihren kleinen Bruder Schuhe zu kaufen, denn ohne diese darf er die Schule nicht mehr besuchen. Dies sagt der König, und deshalb wird es richtig sein – denn wie sollte man ohne gute Schuhe unterrichtet werden können? Für Lungile ist in der Stadt alles laut, hektisch und bedrohlich. Sie nimmt die so andersartige Stadt ganz elementar wahr: die Menschen, die es eilig haben, obwohl die Wege kurz sind, Frauen ungewohnt in Hosen, Menschen, die Geld aus einer Maschine in einer Mauer bekommen, Lebensmittel und Waren im Überfluss, Dinge, von denen Lungile noch nicht einmal den Namen kennt. Für Lungile ist das alles ein ungewohnter, ja absurder Anblick. Sie hat sich ihre Schuluniform angezogen, ihre besten Sachen, denn sie möchte ordentlich aussehen. Sie will Arbeit finden, um Geld zu verdienen, um Jabu die Schuhe kaufen zu können. Sie muss jedoch schnell feststellen, dass es für Kinder keine Arbeit gibt, denn der König erlaubt nicht, dass Kinder arbeiten. Kinder sollen zur Schule gehen, aber bitte ordentlich angezogen. Wie sie das ohne Eltern und ohne die Erlaubnis zu arbeiten bewerkstelligen soll, weiß sie nicht. Doch Lungile hinterfragt ihre Situation nicht. Für sie handelt es sich um Tatsachen, die für sie alltägliche Normalität darstellen, und den Willen der Obrigkeit hat man zu akzeptieren. Der König bestimmt, das ist Gesetz.

Die einzige ‚Arbeit‘, die es für Kinder gibt, findet sich beim Matsapha Truck Stop. Hier verkaufen Mädchen für ein paar Emalangeni ihre Kindheit an Truckerfahrer. Auch Lungile geht letzten Endes aus Verzweiflung und trotz großer Angst und Widerwillen diesen Weg. Ihre Jungfräulichkeit ist nicht einmal so viel wert wie Jabus Schuhe. Zweimal verkauft Lungile ihren Körper, und sie hat immer noch nicht genug Geld, um die Schuhe für für ihren Bruder kaufen zu können. Der Schuhverkäufer hat letzten Endes Mitleid mit ihr und überlässt ihr die Schuhe, obwohl ihr zehn Emalangeni fehlen. Jabu darf nun endlich wieder zur Schule gehen, aber um welchen Preis?

Die renommierte Illustratorin Regina Kehn, die mit Kirsten Boie bereits bei „Der Junge, der Gedanken lesen konnte“ erfolgreich zusammenarbeitete, gestaltete das Cover und interpretierte die einzelnen Geschichten in je einem ganzseitigen Bild. Sie orientiert sich bei ihren Arbeiten unter anderem an afrikanischen Holzschnitten, auch wenn ihre eigene Handschrift deutlich hervortritt. Das Rostrot und Schwarz, das neben einem hellen Crèmeton die Bilder dominiert, ruft beim Betrachter Assoziationen der trockenen, kargen, staubigen Landschaft von Swasiland wach. Rote Erde, rotes Land. Die eher schlicht gehaltenen Bilder lassen beim Betrachter ein Gefühl von dem Land und den darin lebenden Menschen entstehen. Kehn schafft es bei allen Bildern, genau den Moment „davor“ einzufangen. Alle wichtigen Details der einzelnen Geschichten sind enthalten, jedoch illustriert sie gerade nicht den kritischen Moment, den Höhepunkt an sich.

„Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen“ ist anders als die Bücher, die Kirsten Boie sonst geschrieben hat. Man ist von Boie gewohnt, dass sie für unterschiedliche Alter und Erzählgegenstände immer eine je adäquate Sprache findet. Jedoch hebt sich dieses Buch unter ihren Veröffentlichungen noch einmal besonders heraus, war doch die Motivation, dieses Buch zu schreiben, ganz persönlicher Natur. Es ist quasi Teil der Verarbeitung der von ihr in Swasiland bei verschiedenen Reisen gemachten Erlebnisse. Im Nachwort erfährt der Leser, dass die Geschichten auf wahren Begebenheiten beruhen und die Autorin die portraitierten Menschen auf ihren Reisen durch Swasiland wirklich getroffen hat. Nicht nur in diesem Sinne sind die vier Geschichten ‚wahr‘. Sie künden auch eine andere, grausame Wahrheit: In Swasiland leben 900 000 Menschen, davon sind 120 000 Aidswaisen, die entweder Mutter oder Vater oder gar beide verloren haben. In Swasiland sind mehr Menschen an HIV erkrankt als irgendwo sonst auf der Welt. Boie sagt, dass sie es deshalb nicht ändern könne, dass ihre Geschichten so traurig seien. Trauriger als die Wirklichkeit seien sie auf jeden Fall nicht.

Völlig zu Recht hat Kirsten Boie für dieses ebenso erschütternde wie poetische Werk, das nicht nur Jugendlichen zur Lektüre anzuempfehlen ist, den „Luchs“ des Jahres 2013 verliehen bekommen.

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