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Titelbild
Stefanie de Velasco:
Tigermilch. Roman
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2013
279 Seiten
€ 16,99/ E-Book: € 14,99
Junge Erwachsene

 

de Velasco, Stefanie: Tigermilch

Voll kross

von Annette Lauman (2014)

Wann ist man eigentlich erwachsen? Die Volljährigkeit beginnt vor dem Gesetz mit dem achtzehnten Lebensjahr, und in anderen Ländern ist man sogar erst mit 21 Jahren erwachsen.

Die beiden 14-jährigen Mädchen Nini und Jameelah, die Hauptfiguren des Debütromans „Tigermilch“ von Stefanie de Velasco, sehen das anders. Sie haben da ihre ganz eigenen Kriterien: „Wir zwei, Jameelah und ich, wir sind jetzt erwachsen. Deswegen kaufen wir uns Ringelstrümpfe von unserem Taschengeld. Wenn man anfängt, sich selbst Klamotten zu kaufen, dann ist man erwachsen.“

Und so gehen sie mit ihren hochgezogenen Ringelstrümpfen und ihren knappen T-Shirts los zur „Kurfürsten“, um sich „angeschickert“ von „Tigermilch“, einem selbst gemixten alkoholischen Getränk mit „ordentlich Mariacron“, durch Prostitution „voll kross“ und „witzig“ auf die Entjungferung vorzubereiten – erst einmal nur auf Probe. Eigentlich sind für die Defloration Nico und Lukas ausgewählt, zwei Jungen, die Nini und Jameelah ziemlich gut gefallen. Es ist ein Projekt, das die Mädchen vorrangig angehen wollen, und zwar spätestens in den anstehenden Sommerferien.

Aber mit dem Erwachsenwerden ist es gar nicht so einfach, wie die beiden Freundinnen immer wieder merken. Zwischen Diddlmaus und Tigermilch, Yum Yum und Kondomen, zwischen 'In-den-Tag-hinein-chillen' und der Verantwortung der Erwachsenenwelt switchen sie immer wieder hin und her.

Nini ist die Ich-Erzählerin des Romans. Sie wohnt zusammen mit ihrer Mutter, deren Freund und der kleinen Schwester Jessi in einer kleinen Wohnung irgendwo in Berlin. Zu ihrem leiblichen Vater hat sie keinen Kontakt, denn der hat die Familie bereits schon vor längerer Zeit verlassen. Die Mutter liegt meistens depressiv auf der Couch und ist in ihrer eigenen Welt gefangen, auf ihrer eigenen „Insel“. Daher ist Nini bereits früh auf sich gestellt und muss mit ihren vierzehn Jahren schon Verantwortung tragen: einmal für Jessi, die schon vor ihrer ersten Menstruation ein Alkoholproblem entwickelt, und natürlich für ihre Mutter. Erwachsenwerden erscheint Nini gleichzeitig erstrebenswert, aber auch bedrohlich zu sein.

Ninis beste Freundin ist Jameelah. Sie ist gebürtige Irakerin und wohnt zusammen mit der Mutter im gleichen Kiez wie Nini. Jameelah hat Angst vor der Abschiebung in die Heimat und wünscht sich sehnlichst, eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis in Deutschland zu bekommen, um endlich Deutsche werden zu können. Jameelah liebt die deutsche Sprache, sie liebt deutsche Wörter, genauer: deutsche „verzauberte“ Wörter wie „Jude“, „Scheide“ oder „Nazi“. Denn wenn sie fallen, hat sie beobachtet, bleibt für einen Moment die Welt stehen.

Jameelah liebt es, Wörter zu „knacken“, indem sie einfach Buchstaben vertauscht. So wird aus Luft Lust, aus Geld Gold, aus krass kross oder aus Filter drehen Folter drohen. Immer wieder wartet der Roman mit kleinen Sprachspielen und originellen sprachlichen Bezügen auf, was ihm einen besonderen Charme verleiht. Jameelah spielt mit der Sprache und bringt die Leserinnen und Leser an vielen Stellen damit zum Lachen: „Der hat doch einen an der Falafel“. Gerade diese Spiele mit der Sprache machen das Buch so besonders und tragen zum Lesegenuss bei. Doch trotz allem ist der Roman nicht wirklich witzig.

Stefanie de Velasco verknüpft mit der Handlung viele verschiedene, beinahe schon zu viele Themen, mit denen Mädchen, die in einer Metropole leben und dazu noch aus einem bestimmten Milieu kommen, konfrontiert werden können. Überragt werden die vielen ‚kleinen‘ Themen durch das zentrale Thema „Freundschaft“. Es zieht sich von der ersten Seite an durch den kompletten Roman und wird auf sehr rührende und einfühlsame, mitunter sogar poetische Weise zur Sprache gebracht. Hervorzuheben sind vor allem manche Dialoge zwischen Jameelah und Nini, ihr Philosophieren über Themen, die einen berühren und unter die Haut gehen können: „... ich weiß nur, dass wir immer dachten, dass niemals etwas schiefgehen wird, dass nichts passieren kann, solange wir nicht alleine gehen, nirgendwohin allein.“ Nini und Jameelah lassen sich auf viele Abenteuer ein, sie gehen dabei durch dick und dünn und durchleben gemeinsam, was echte Freundschaft ausmacht: Sie teilen Ängste und Nöte, Freude und Leid und bleiben Freundinnen für immer. Auch dann, als die Freundschaft eines Tages vor einer echten Zerreißprobe steht, als sie nämlich Zeuginnen des Ehrenmordes an der Bosnierin Jasna werden. Dabei wollen die beiden Freundinnen doch nur eines Nachts auf dem Spielplatz die Wirksamkeit eines Liebeszaubers testen, indem sie nackt mit Rosenblättern im Kreis laufen und die Namen ihrer Geliebten rufen. Stattdessen werden sie Zeugen, wie der befreundete Tarik seine Schwester Jasna mit einem Messer ersticht, um die Ehre der Familie zu bewahren.

Auch wenn die Geschichte durchaus tragische Züge trägt und einem die Schicksale einzelner Protagonisten unter die Haut gehen, versteht es die Autorin, die Leserschaft in ihren Bann zu ziehen. Mit leichter und pointierter Sprache werden die einzelnen Erzählstränge spannungsreich miteinander verwoben, wenngleich alles thematisch etwas überfrachtet wirkt.

Die Autorin konfrontiert ihre Leserschaft aber auch mit einer Sprache und mit Vokabeln, die schockieren können. Sie nimmt dabei kein Blatt vor den Mund, sodass der Roman angesichts der teils derben und häufig auch sexualisierten Ausdrucksweise eher für junge Erwachsene zu empfehlen ist. Nichtsdestotrotz ist Stefanie de Velasco ein origineller Debütroman gelungen, den man gelesen haben sollte.

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