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Ted van Lieshout:
Sehr kleine Liebe
Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
Illustriert von Brigitte Püls
München: Rieder 2014
24 ungez. Bll.
€ 13,95
Illustriertes Übergangsbuch ab 12 Jahren

Van Lieshout, Ted (Text) und Püls, Brigitte (Illustration): Sehr kleine Liebe

Ganz ohne Bonbons

von Randi Dann und Peter Strotkoetter (2014)

Ted ist zwölf Jahre alt. Er hat gerade seinen Vater verloren und wird von seiner Mutter ängstlich behütet. Für Ted ist das alles zu viel: Er möchte etwas erleben, Neues sehen, frei sein, Zuneigung ohne Kompromisse spüren, er möchte nicht nur als der zu beschützende kleine Junge gesehen werden. Und tatsächlich findet er in Herrn M. so jemanden: einen erwachsenen Mann, der ihm genau diese Dinge gibt – ohne Bedingungen. Herr M. ist einfach da und gibt Ted ein gutes Gefühl. Das Gefühl, anerkannt zu sein, gewollt zu sein, ebenbürtig mit diesem wesentlich älteren Mann zu sein. Herr M. fühlt sich zu Ted hingezogen, da er sich selbst in ihm sieht. Er sieht eine Möglichkeit, mit Ted seine eigene, trostlose und unerfüllte Kindheit neu zu erleben. Er sieht in Ted sich selbst als Zwölfjährigen, allerdings in einer besseren Version: als aufgeweckten, offenen und originellen Jungen, der für alles bereit ist und der seinen Sehnsüchten nachgehen kann.

In Gedichten und Briefen erzählt Ted von seiner Freundschaft zu Herrn M., die irgendwann weiter geht, als eine Freundschaft zwischen einem Jungen und einem erwachsenen Mann gehen darf. Doch worum genau es geht, wird dem Leser in den ersten Gedichten noch gar nicht ganz klar. Anfangs ist es nur ein ungutes Gefühl, das einen beim Lesen überkommt. Erst in den Briefen, die sich Herr M. und Ted 25 Jahre später schreiben, wird klar, was man zuvor erahnt hat: Die beiden haben eine ungleiche und doch von beiden Seiten gewollte Beziehung geführt, eine Beziehung, die beiden Partnern gut getan hat – dem einen körperlich und dem anderen psychisch.

Die Anordnung der Gedichte bzw. der Briefe erfolgt im Buch keineswegs willkürlich. Die in Gedichtblöcke eingebetteten Briefe zwischen Ted und Herrn M. spiegeln die Entwicklung wider, die Ted in seinem Leben durchlaufen hat. Zunächst sind die Gedichte vom erwachsenen Ted geschrieben, der sich seiner selbst als zwölfjährigen Jungen erinnert. Die Gedichte sind an seine Mutter und Familie gerichtet. Sie beschreiben sein Leben als Junge und seine Wünsche, auszubrechen. Es sind Gedichte, die Schmerz ausdrücken, Einsamkeit, oftmals unterstrichen durch sexuelle Anspielungen, Gedichte, die zeigen, dass Ted kein ‚gewöhnliches‘ Kind gewesen ist, Gedichte, die später auch die ersten Kontakte und Gefühle gegenüber einem Mann schildern, der ihm Aufmerksamkeit und Nähe schenkt, die Sehnsucht und zugleich Bedrohlichkeit vermitteln. Die Verse der Gedichte sind gezeichnet durch Enjambements, die die Sätze brechen, ihnen so eine zweite Bedeutung schenken:

„[...] Ich bin kein Kind oder Sklave
mehr, sondern jemand mit einem eigenen Namen“.

Ted ist kein Kind mehr, er ist Mehr, jemand mit einem eigenen Namen, jemand, in dem Herr M. genau das sieht.

Die folgenden Briefe sind 25 Jahre später verfasst worden. In diesen Briefen wird das Bild von dem, was damals zwischen den beiden vorgegangen ist, etwas deutlicher: Herr M. wendet sich nach all den Jahren an Ted und gibt die Rolle des reuevollen Täters, der, von Schuldgefühlen geplagt, um Vergebung bittet. Ted hingegen geht nicht in der Rolle des ‚klassischen‘ Opfers auf: Er beschwichtigt Herrn M., sagt ihm, er müsse keine Gewissensbisse haben; er habe niemals die schöne Momente vergessen, die sie miteinander verlebt hätten.

Aus seiner Sicht als nun Erwachsener schreibt Ted anschließend weitere Gedichte, gerichtet an ‚seinen‘ Herrn M., Gedichte, die seine Gefühle nach all den Jahren beschreiben, Gedichte, mit denen Ted Herrn M. nicht anprangert, sondern ihm vergeben möchte, ihm zeigen möchte, dass er ihn nicht verraten hat, nicht verraten wird, weil er dieses zarte Geheimnis für sich behalten möchte.

In seinem neuen Werk „Sehr kleine Liebe“ verarbeitet der erfolgreiche niederländische Kinder- und Jugendbuchautor Ted van Lieshout einen Teil seiner eigenen Vergangenheit. Die Vermutung, dass es sich bei dem Geschilderten um autobiographische Erlebnisse handelt, kommt dem Leser besonders bei der Lektüre der Briefe, denn sowohl Erzähler als auch Autor tragen den gleichen Namen. Gewissheit über den autobiographischen Hintergrund des Textes bekommt man im Nachwort. Irritierend ist allerdings, dass das Nachwort aus dem Jahr 2014, dem Erscheinungsjahr der deutschen Ausgabe, stammt. In den Niederlanden ist das Buch dagegen bereits 1999 erschienen. So ganz fügt das Nachwort sich auch nicht in den Gesamtzusammenhang hinein: Es wirkt konstruiert, als hätte van Lieshout seine Geschichte für den deutschen Markt erklären und rechtfertigen müssen. Doch das müsste er nicht, denn van Lieshout behandelt das Thema des sexuellen Missbrauchs auf sehr reflektierte und differenzierte Art und Weise. Er schreibt nicht aus der Rolle des Opfers, dem etwas Schlimmes zugestoßen ist, sondern aus der Rolle des zwölfjährigen Jungen, der diese Beziehung nicht nur ausgehalten, sondern in Teilen auch genossen hat.

Der Faden, mit dem Herr M. Ted – ganz ohne Bonbons, allein mit Aufmerksamkeit und einer Art von Liebe – einwickelt und immer fester an sich bindet, wird in Brigitte Püls‘ Zeichnungen, die van Lieshouts Text illustrieren, sichtbar. Ihre schwarzen Strichmännchen versinken im Meer, werden von roten Fäden eingewickelt, sind in einem schwarzen Haus hinter roten Vorhängen versteckt. Der rote Faden täuscht auch optisch eine Struktur vor, die zum festen Gewebe wird, zu einer roten Gardine, die verdeckt, was niemand sehen soll. Die Strichmännchen, als anonyme Zeichnungen ohne Gesicht und ohne besondere Persönlichkeit, stehen im Gegensatz zu dem besonderen Fall Teds oder auch für all diejenigen, die ‚falsch‘ lieben und dadurch den richtigen Faden verlieren. Passend dazu, dass Herr M. von Ted auf einen Sockel gesetzt wird, wird er durch eine Krone symbolisiert. Anfangs wird sie noch von einem Wesen auf dem Kopf getragen, zeigt dann an, was sich hier der roten Gardine verbirgt, liegt später auf dem Boden, und am Ende ist sie nur noch verwischt: Ted bricht seine Geschichte hier so ab, wie Herr M. ihn hat stehen lassen. Es sind sehr einfache Zeichnungen, die trotzdem – oder vielleicht auch gerade deswegen – viel erzählen. Sie lassen Raum für die vielen Gedanken, die einem beim Lesen durch den Kopf gehen. Raum für das, was erzählt wird, lässt auch das Layout. Sowohl Gedichte als auch Briefe sind in Flattersatz gesetzt. Selten sind die Seiten voll bedruckt, im Gegenteil wird sehr viel Raum zwischen den einzelnen Abschnitten gelassen. Dieser freie Platz ist für den Leser wohltuend und hilft beim Verarbeiten der Geschichte, sagen die wenigen Worte doch deutlich mehr, als sie Platz einnehmen.

Das Buch ist mit seinen nicht einmal sechzig Seiten relativ dünn und schnell durchgelesen. Die Geschichte klingt dem Leser aber noch lange nach. „Sehr kleine Liebe“ ist ein Buch, das man nicht so schnell vergisst, denn es wühlt auf, erschüttert, irritiert und regt zum Nachdenken an. Es ist ein Buch, das man mehr als einmal lesen kann, ja mehr als einmal lesen muss. Vieles erschließt sich nicht direkt bei der ersten Lektüre. Einiges scheint zunächst unklar und verschleiert, über anderes liest man zunächst hinweg. Erst beim zweiten oder auch dritten Mal wird manches, wenn auch nicht alles, klarer. Worte, die zunächst fast bedeutungslos erschienen, werden plötzlich zu Hinweisen auf das bevorstehende Übel. Wie passend bei einer Thematik, bei der man auch im wahren Leben die Anzeichen oft erst im Nachhinein sieht – oder sehen will.

Auch wenn der Verlag das Lesealter mit zwölf Jahren angibt, ist dieses Buch nicht uneingeschränkt für alle Zwölfjährigen verständlich. Es gibt beim Lesen Rede- und Klärungsbedarf, so dass sich das Werk als Privatlektüre erst für bereits erfahrenere Leser empfiehlt. Der für den Hans-Christian-Andersen-Preis und den Astrid Lindgren Memorial Award nominierte Ted van Lieshout zeichnet in seinem aufwühlenden Buch „Sehr kleine Liebe“ das Portrait eines Jungen, dem etwas passiert, was keinem Kind passieren darf, und der später trotzdem ein erfülltes Leben leben kann, auch wenn er – worauf die Umschlagillustration anspielt – ein ‚großes Paket‘ zu tragen hat.

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