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Lara Schützsack:
Und auch so bitterkalt. Roman
Frankfurt am Main: Fischer KJB 2014
176 Seiten
€ 14,99
E-Book: € 12,99
Jugendbuch ab 14 Jahren

 

Schützsack, Lara: Und auch so bitterkalt

Das Verlangen nach immer weniger

von Nadine Bieker (2014)

„Lucinda ist so ein Mädchen, nach dem sich die Menschen auf der Straße umdrehen. Nicht, weil sie einfach nur schön ist, sondern weil man spürt, dass etwas mit ihr passieren wird.“

In Lara Schützsacks Debütroman „Und auch so bitterkalt“ erzählt Malina von der Reise ihrer großen Schwester Lucinda. Die Reise führt Lucinda in ein imaginiertes Land: „Tenebrien ist das Land, in das alle gehen, die nicht für unsere Welt gemacht sind.“ Lucinda hat Tenebrien vor allem für sich selbst erfunden – sie ist magersüchtig und längst auf dem Weg dorthin.

Lucinda hat keine Angst, denn sie findet „das Gefährlichste ist die Angst selbst“. Sie sucht den Schmerz, sie braucht ihn, „weil sie mehr vom Leben erwartet. Kein leises Summen, sondern ein Dröhnen, kein stetes Licht, sondern ein Blitzgewitter, und immer soll da ein Brennen sein auf der Haut und ganz tief drinnen, damit wir spüren, dass wir am Leben sind.“ Ihr Leben muss wehtun, weil ihr diese eine Welt, in der alle leben, nicht ausreicht. Nur wenn es weh tut, spürt Lucinda, dass sie am Leben ist. Sie verachtet das ‚normale‘ Leben und alles, was ‚nett‘ ist. Lucinda findet alle anderen lächerlich, weil für sie in dieser Welt nichts einen Sinn ergibt.

Lucinda ist bitterkalt, denn auch der Weg nach Tenebrien ist bitterkalt. Sie ist bitterkalt zu ihren Eltern und vor allem zu all den Jungs, die sie im Keller besuchen und nach dem einen Mal nie wiederkehren – außer Jarvis, dem neuen Nachbarn. Jarvis, der immer das T-Shirt mit dem Aufdruck „Jarvis is Jesus“ trägt, ist etwas Besonderes. Er schmachtet noch schmerzlicher nach Lucinda als all die anderen, und sie lässt ihn näher und länger an sich heran als je jemanden zuvor – doch das bedeutet nur in Lucindas Welt etwas Gutes. Denn Jarvis befolgt ihre Regeln, vor allem Regel Nummer drei: „Ein Mann muss gefährliche Sachen wagen, um der Frau zu gefallen. Er muss für sie sein Leben riskieren. Es muss ihm unbedeutend erscheinen gegen ihre Liebe.“

Nach dem Sommer, in dem Lucinda sich langsam auf den Weg nach Tenebrien aufmacht, kommt der Herbst, und Jarvis befolgt die Regel Nummer drei: „Sein Kopf ist nach vorne hin abgeknickt. Es sieht beinahe friedlich aus, wie er dort hängt, an einer Wäscheleine.“ Durch Jarvis Suizid zerbricht Lucindas Leben völlig. Der Leser kann nahezu in Zeitlupentempo miterleben, wie Lucinda Jarvis am Baum hängend findet: Zweiundzwanzig Seiten lang finden sich nur einzelne Wörter oder Sätze auf dem Papier, die oft nicht mehr als Stille erzählen und so die Ohnmacht der Situation verdeutlichen, bis es mit einer komplett schwarz gefärbten Doppelseite auch im Buch dunkel wird. Lucinda erholt sich kaum von dem Schock, und mit Beginn des Winters wird auch ihr Leben dunkler: an Tagen, an denen sie nur noch körperlich da ist, an denen das „dunkle Tier“ rauskommt und nur durch Tränen weggespült werden kann. Tenebrien, das „Dunkelland“, wird immer greifbarer.

Malina bewundert ihre große Schwester. Alles, was Lucinda macht, scheint ihr besonders, extravagant und erstrebenswert. Um Vieles beneidet Malina Lucinda: um ihre Kleidung, um die Abgeklärtheit, mit der Lucinda einen Jungen nach dem anderen im Keller empfängt, um ihre Verwegenheit, wenn Lucinda auf einer zerstörten Brücke am Abgrund entlang spaziert, um die Beharrlichkeit, mit der sie es schafft, jede Mahlzeit nicht zu essen. Lucinda nutzt das aber nicht aus, im Gegenteil: Malina ist die Einzige, die von Lucinda ins Vertrauen gezogen wird, der Lucinda erzählt, was in ihr vorgeht, und der sie gesteht, dass sie bald gehen muss. Malina ist es aber auch, die unter Lucindas Krankheit leidet, der die Mutter den Teller immer nachfüllt, die Brot mit extra viel Butter essen muss, weil die Mutter ihre jüngste Tochter nicht auch verlieren möchte. Malina steht so immer zwischen ihrer Schwester und ihren Eltern. Sie kann der Mutter nicht sagen, dass es die Backkartoffeln, die Lucinda in der Schulcafeteria gegessen zu haben vorgibt, gar nicht gibt, weil Malina nicht erkennt, dass Lucindas Verlangen nach immer weniger eine Krankheit ist – und nicht ein Teil ihrer Extravaganz.

Malina muss zwischen den Eltern und Lucinda vermitteln, zwischen dem, was die Eltern sehen, und dem, was Lucinda fühlt. Deshalb erklärt auch Malina dem Leser, wie Lucindas Reise aussieht, denn Lucindas Sehnsucht nach einem anderen Leben lässt sie selbst nicht mehr mitbekommen, dass sie von dem wahren Leben schon zu weit entfernt ist. In Lucindas Augen lebt nur sie selbst das richtige Leben: ein Leben, in dem der Schmerz Nahrung ist, in dem weniger viel mehr ist. Sie will eine Muse sein, an der sich alle verzehren, geliebt werden, aber nicht lieben. Sie sieht sich selber fluoreszieren, leuchten im Dunkeln. Sie wird weicher als alle anderen, weil ihr weiche, zarte Haare auf dem ganzen Körper wachsen. Sie ist engelhafter als alle anderen Mädchen, weil ihre Schulterblätter zu Flügeln werden. Sie meint, klüger zu sein als die anderen, und spuckt jeden Bissen zerkautes Essen wieder aus. Lucinda meint zu verstehen, wie das Leben funktioniert, und flüchtet deshalb in die Welt der Musik, denn von „Musik kannst du in vier Minuten mehr lernen als von dreizehn Jahren Schulunterricht.“ Doch nach der Musik kommt die Stille – Lucinda braucht die Musik nicht mehr, um aus dem Leben zu fliehen, weil sie schon längst woanders ist.

Lara Schützsacks Jugendroman ist schön und zugleich traurig, vor allem aber ist er nicht moralisierend, sondern authentisch. Auf wenigen Seiten erzählt die Autorin in kurzen, einfachen Sätzen über eine, der diese Welt nicht reicht, die mehr erwartet vom Leben, deren Verlangen nach immer weniger immer größer wird – bis sie entschlossen ist, zu gehen. Schützsack arbeitet mit starken Bildern, die die Emotionalität des Romans zum Ausdruck bringen. Immer wieder nimmt die Autorin den Leser mit in Grenzsituationen, zu Grenzen, die sie Lucinda überschreiten und den Leser mitfühlen lässt: Lucinda, die auf einer kaum mehr begehbaren Brücke immer nahe am Abgrund herumstolziert, die unter Tränen einen Teller Spaghetti isst, die den zerbrochenen Stuckengel lieber beerdigt als repariert, denn starke Frauen werden nicht wiederbelebt. Schützsack lässt Lucinda hier Plautus zitieren: „Wen die Götter lieben, den lassen sie früh sterben.“ Die Autorin schenkt uns einen Roman, der nachwirkt, der uns Menschen wie Lucinda verstehen und uns selber die Frage stellen lässt, was uns wirklich wichtig ist im Leben – und nicht den anderen.

Lucindas Eltern sehen ein pubertierendes Mädchen, das anders ist als alle anderen. Ihr Vater Frieder glaubt zu lange, dass es eine Phase sei, die vorbei gehe, und der deshalb zu oft schweigt. Ihre Mutter Isa merkt, dass sie ihre Tochter verlieren wird. Als Leser kann man Isas Ohnmacht spüren, ihren tragischen Kampf gegen Lucindas Krankheit, und am Ende kann Isa doch nur verlieren: Lucinda will die Krankheit nicht besiegen. Sie ist ein Mädchen, in dessen Leben es oft ums Verschwinden geht, ums Sterben, aber immer ohne Angst und mit einer Gelassenheit, wie sie nur Endgültigkeit mit sich bringt. Sie plant ihre eigene Beerdigung wie die nächste Party, und sie feiert die Beisetzung des geliebten Stuckengels mit Konfetti. Sie weiß, wie sie bekommt, was sie will – und isst dafür provozierend ein großes Stück Kuchen mit extra Sahne. Für sie muss der Boden mit Teppichen ausgelegt werden, weil ihre Füße sie nicht mehr durch das reale Leben tragen. Für ihren Vater ist Lucinda „seine Königin. Weil sie keinen Widerspruch duldet. Weil sie geradeaus geht, auch wenn die Straße gebogen ist. Weil sie ohne Angst dorthin geht, wo es weh tut.“ Für Lucindas Eltern ist sie aber vor allem ein Mädchen, das nicht isst, nur Kaugummi kaut, und all die Mittel, mit denen sie etwas zu tun versuchen, bewirken nichts. Auch der Psychologe, den die Familie gemeinsam und Lucinda auch alleine besucht, kann nicht weiterhelfen. Seine ärztliche Einschätzung kommt Lucindas Entschluss dennoch sehr nahe: „Die Heilungschancen sind bei dieser Krankheit ab einem bestimmten Verlauf nicht unbedingt günstig. Auf lange Sicht gesehen.“

Am Ende kann auch Malina nichts mehr tun, sie kann nicht sagen, dass Lucinda „die Geräusche nicht erträgt, das Kauen und Schmatzen, das Schlucken, das Zischen der Kohlensäure, wenn man den Deckel der Wasserflasche öffnet“. Malina scheint um Hilfe zu schreien, aber ihre Eltern hören sie nicht, weil sie vor lauter Aufmerksamkeit nicht mehr mitbekommen, was wirklich passiert. Aber Malina weiß es, sie weiß, wie es Lucinda ergeht, und sie weiß auch, dass sie nichts tun kann. Und so hilft sie ihrer Schwester, hält immer zu ihr, um alles von ihr aufzusaugen, was sie bekommen kann, bevor Lucinda endgültig nach Tenebrien geht.

Lucinda ist nur noch bitterkalt. „Ständig ist sie von Schauern gejagt, stellen sich die Haare an ihren Armen auf zum Schutz gegen die Kälte.“ Bald hat sie Tenebrien erreicht.

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