Silvey, Craig (Text) und Sonia Martinez (Illustration): Liam und das Amulett
Superheld mit Alltagsproblemen
von Peter Strotkoetter (2014)
„Wichtiger Fragebogen: Sind Sie unglücklich?
o Ja
o Nein
(Bitte kreuzen Sie das entsprechende Kästchen an. Es ist wichtig.)
Ihr wachsamer Maskierter Rächer“
Die Bewohner der Franklin Street können glücklich sein: Sie werden beschützt und behütet von einem Superhelden, dem „Maskierten Rächer“. Niemand darf ihn oder seinen Partner, den Powerbeagle Richie, erkennen. Der „Maskierte Rächer" kann Dinge geschehen lassen: Durch bloße körperliche Bewegung kann er einen Schwarm Vögel zum Fliegen animieren, durch seine Kräfte schafft er es, dass sich Bäume biegen, durch richtig eingesetzte Energie kann er den Bürgern helfen und sie vor Unheil bewahren. Sein Heldenauftritt beinhaltet eine ganze Philosophie und ist bis ins Detail durchdacht. Zusätzlich zu seiner Maske und seinem Cape trägt er einen Kraftgürtel, der mit diversen energetischen Edelsteinen und Mineralien ausgestattet ist. Die Energie ist das Wichtigste für den „Maskierten Rächer“. Alle Gegenstände stecken voller Energie, sie können die Energie aufnehmen und abgeben, besonders Edelsteine. Für jede seiner Fähigkeiten als Superheld benötigt er unterschiedliche Energie: Quarz für seine Vernunft, Nickel für Kraft und Ausdauer, und besonders wichtig ist Magnetit. Durch magnetische Energie kann er feststellen, wer in der Franklin Street die Hilfe eines Superhelden benötigt. Vor jedem Haus hat er ein Magnetometer installiert, um schlechte Energie in dem jeweiligen Haus aufzuspüren.
Als eines Tages das Magnetometer am Ende der Straße bei einer von ihm beobachteten Frau anschlägt, weiß der „Maskierte Rächer", dass Gefahr im Verzug ist. Sorge bereitet ihm diese Frau schon lange. Immer wieder hat er sie mit ihrem Mann streiten gehört. Der „Maskierte Rächer“ ist der einzige, der dieser Frau helfen kann. Mit seinen Superkräften und der Energie eines Bernsteinamuletts kann der „Maskierte Rächer" diese traurige Frau retten. Er nimmt dieses Amulett und übergibt es der hilfebedürftigen Joan.
Liam McKenzie ist ein zwölfjähriger Junge, der mit einer Welt voller Probleme fertig werden muss. Er ist von seinem Vater verlassen worden, lebt allein mit seiner Mutter, hat seinen Beagle als einzigen richtigen Freund und versucht, seinem chaotischen Leben Ordnung zu geben – so viel Ordnung, dass es schon neurotisch wirkt, wenn er sich nachts zum „Maskierten Rächer“ verwandelt und in der Nachbarschaft der Franklin Street mit seinem treuen Gefährten Richie Mülltonnen gerade rückt und auf platte Autoreifen hinweist. Um seiner Alltagswelt zu entfliehen, hat er sich einen Kokon aus positiven Geschichten gebaut und lebt sogar als Zwölfjähriger noch in dieser kindlichen Fantasiewelt eines Superhelden.
Liam macht sich viele Gedanken über Gerechtigkeit und über seine Verantwortung. Er hat ähnliche Probleme wie andere zwölfjährige Jungen auch: Er ist schüchtern, manchmal trotzig und, wie seine Mutter sagt, auch mal „unfassbar unbehilflich“. Liam benimmt sich nicht immer so, wie man es von einem Superhelden erwarten könnte: Mitunter weigert er sich, seine gemachten Hausaufgaben abzugeben, handelt gegen seinen eigenen Tugendkanon, ist frech zu seiner Mutter oder isst schon mal sein Abendessen nicht auf.
Die Hilfe, die Joan wirklich benötigt, kann der „Maskierte Rächer“ nicht bieten, da dieser fest an seine Edelsteine glaubt und das Bernsteinamulett als die alleinige Rettung sieht. Das Amulett jedoch bringt Liam in eine wahre Zwickmühle: Denn wo in der Fantasie der „Maskierte Rächer“ nur den passenden Bernstein aus der Höhle der Riesin holt, muss in der Wirklichkeit Liam das Amulett seiner Mutter stehlen. Den Konflikt zwischen den Handlungsnotwendigkeiten des „Maskierten Rächers“ und dem herben Verlust, den Liam seiner Mutter zufügt, sieht der Junge gar nicht. Er reflektiert die Situation zu keinem Zeitpunkt, auch nicht, als Joan ihr Problem eigentlich selbst löst: Als „Maskierter Rächer“ erzählt Liam Joan über die Entstehung und Wirkung des Bernsteins, und in dieser Erzählung, die sie als Bild begreift, realisiert Joan, worin ihr eigenes Problem liegt. Dieser Erkenntnisprozess bleibt Liam jedoch gänzlich verborgen. Für ihn zählt immer nur die helfende Kraft der Edelsteine, sonst nichts. Als Liam dämmert, welchen Schaden er bei seiner Mutter angerichtet hat, schreibt er ihr einen Brief, um sich für das Entwenden des Bernsteinamuletts zu entschuldigen, doch Joan kommt ihm zuvor: Sie bedankt sich für seine unverhoffte Hilfe und gibt ihm das Amulett zurück. Somit ist Liam seine Sorge los, hat aber nicht die Chance bekommen, aus seiner Rolle des unwissenden, fantasierenden Jungen auszubrechen und sich weiterzuentwickeln.
Passend zu der Geschichte eines Superhelden ist das Buch aufgemacht wie ein Groschenroman aus den 1950er Jahren, inklusive aufgedruckter Abnutzungseffekte. Die Illustrationen von Sonia Martinez sind in den Text eingebettet wie in ein Tagebuch. Aus Bruchstücken, Bildern, Textelementen und Fotos entstehen Montagen, die – wie es scheint – von Liam selbst zusammengestellt worden sind. Es sind Bilder, die den Superhelden näher beschreiben, und es sind solche, die der „Maskierte Rächer" in sein Heldentagebuch einordnen würde. Jedes Kapitel ist mit einem Monogramm des „Maskierten Rächers“ versehen, welches auch auf seinen Briefen erscheint. Dabei ist dieses Monogramm in seiner korrekt gemalten Form für den akkuraten „Maskierten Rächer“ so wichtig, dass er auch mal Briefe verwerfen und mehrfach neu anfertigen muss, falls das Monogramm nicht perfekt gelungen ist.
Die Illustrationen nehmen im Buch einen großen Teil ein, rund ein Drittel besteht aus ganzseitigen oder doppelseitigen Bildelementen, die allein zwar detailreich sind, aber ohne den Text keine Informationen über den Verlauf der Geschichte mitteilen. Lediglich die abgedruckten Briefe geben zusätzliches, für die Geschichte relevantes, Wissen wieder.
Der Rowohlt Verlag gibt für das Buch zwar ein Lesealter von zehn Jahren an, doch sollte man diese Empfehlung nicht zu wörtlich nehmen. Bereits die Illustrationen könnten Probleme aufwerfen: Die Montagen von Sonia Martinez sind zwar detailreich und ansprechend zusammengestellt, jedoch muss der Leser verstehen, dass die Illustrationen trotz ihrer ‚wissenschaftlichen‘ Aufmachung nicht die eines Sachbuches sind, in dem unterschiedliche Materialien mit ihren wahren Eigenschaften beschrieben werden. So werden Kristallprismen sicherlich nicht für Unsichtbarkeit sorgen, und Kohle hat auch keine „böse“ Energie. Die Entschlüsselung der Zentralszene der Geschichte erfordert zudem einiges Vorverständnis, muss der Leser doch in der Lage sein, das Asymmetrische in der Kommunikation Liams und Joans zu erkennen und die Ironiesignale zu entschlüsseln. Heikel ist sicherlich auch, dass das persönliche Problem, in das sich Liam hineinmanövriert hat, von außen gelöst wird und der Junge am Ende der Geschichte keinen eigentlichen Erkenntnisfortschritt macht, sondern an seinem kindlichen Weltbild festhält.
Craig Silvey hat die Geschichte über einen Superhelden in der dritten Person verfasst, allerdings wird schnell klar, dass sie weitgehend aus Liams Sicht erzählt wird. Durch seine Perspektive ist das Buch stark positiv geprägt, die negativen Elemente seines realen Lebens lässt er einfach weg und konzentriert sich auf alles, was in seinem positiven und geregelten Wunschleben geschieht. Bei genauerer Betrachtung merkt man aber, dass der Erzähler an verschiedenen Stellen aus Liams Perspektive heraustritt und Elemente beschreibt, die Liam selbst nicht wahrnehmen kann. In diesen Momenten wird der Blick vor allem auf Joan und ihre Gedanken gerichtet. Durch die kurzen Austritte aus der vorherrschenden Liam-Perspektive wird dem erfahrenen Leser die versteckte Ironie klar: Für Liam ist seine Superhelden-Welt stark verwoben mit seiner realen Liam-Welt. So ist das Geheimversteck des „Maskierten Rächers“ gleichzeitig Liams Bett, und die „Schlafende Riesin“ ist Liams Mutter.
Die Gedanken und Taten des „Maskierten Rächers“ werden detailreich und anschaulich dargestellt, realistische und fantastische Elemente werden gekonnt miteinander verwoben. Liam ist der Held der Geschichte und möchte als Held immer das Richtige tun, trotz seiner gar nicht perfekten Alltagssituation, seiner Probleme und seiner Wünsche. Er möchte Böses zu Gutem machen und Gutes noch besser. Für ihn sind nicht nur die energetischen Superkräfte wie Schnelligkeit, Wachsamkeit und Mut wichtig, sondern insbesondere Ehrlichkeit und Treue.
Auch wenn das Buch von Zehnjährigen schnell gelesen werden kann, es optisch etwas hermacht und die Geschichte auf den ersten Blick spannend scheinen mag, so werden sie tiefere Bedeutungsebenen doch erst nach und nach entschlüsseln können. Dann stellt sich jedoch die Frage, ob der sehr kindlich agierende Protagonist noch als Identifikationsangebot dienen kann. – Matthew Moores Verarbeitung des Stoffes zum Kurzspielfilm „The Amber Amulet“, auf der Berlinale 2013 mit dem Gläsernen Bären ausgezeichnet, ist übrigens gerade in deutscher Synchronisation auf den Markt gekommen.