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Torben Kuhlmann:
Lindbergh. Die abenteuerliche Geschichte einer fliegenden Maus
Zürich: NordSüd 2014
44 ungez. Bll.
€ 17,95
Bilderbuch/ illustriertes Kinderbuch ab 5 Jahren

Kuhlmann, Torben: Lindbergh. Die abenteuerliche Geschichte einer fliegenden Maus

Eine Maus hebt ab

von Florian Gatz (2014)

Alle Mäuse Hamburgs sind verschwunden. Dort, wo es normalerweise warm und trocken ist und leckere Kleinigkeiten mühelos aus Speisekammern und Küchen der Menschen stibitzt werden können, ist es gefährlich geworden. Überall liegen „unheimliche Apparaturen herum“. Nur eine Maus scheint übrig geblieben. „Sie verkroch sich oft für viele Monate in düsteren Bibliotheken, um heimlich in den Büchern der Menschen zu lesen“, und muss nun feststellen, dass offenbar all ihre Freunde vor den neuen Mausefallen geflohen und ausgewandert sind.

Torben Kuhlmanns erstes Bilderbuch „Lindbergh – Die abenteuerliche Geschichte einer fliegenden Maus“, Diplomarbeit und Debut zugleich, transferiert die Geschichte der Fliegerei, die am 22. Mai 1927 mit dem ersten Transatlantikflug des US-Amerikaners Charles Lindbergh zu einem vorläufigen Höhepunkt fand, in das Hamburg zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Zum Bilderbuchhelden avanciert dabei eine kleine, neugierige, belesene und technikaffine Maus. Sie ist es, die am Ende der Erzählung den jungen Charles Lindbergh schließlich zur Fliegerei animiert: „Er träumte davon, irgendwann selbst den Himmel zu erobern ...“.

Schon zu Beginn des Buches, auf der Rückseite des Vorsatzblattes und noch bevor die eigentliche Erzählung beginnt, tritt die Maus als Zeichnerin auf. Ob sie hier nur erste Entwürfe zeichnet oder gar die Illustrationen des Buches ‚übernimmt‘, bleibt der Deutung des Lesers überlassen. Nur so viel schon hier: Die Erzählung in „Lindbergh“ wird fast ausschließlich von den Bildern getragen.

Ganz auf sich gestellt, beschließt der Protagonist bzw. die Protagonistin (es lässt sich keine einwandfreie Zuordnung vornehmen, mal heißt es „die schlaue Maus“, mal „der stolze Erfinder“), den Freunden nachzureisen. Nur wohin? Die kleine Maus vermutet, dass ihre Freunde mit dem Schiff nach Amerika ausgewandert sind: „Alle Mäuse kannten Geschichten über diesen fernen Ort. Es hieß, dass eine große Statue dort alle Neuankömmlinge begrüße, ganz egal ob Mensch oder Maus.“

Der Weg zum Hafen wird der Maus von hungrigen Katzen versperrt, die „mittlerweile die Schiffe wie Festungen“ bewachen. Nirgends ist sie sicher, und nur mit Mühe kann sie sich in einen Abwasserkanal retten. Auf ihren Irrwegen durch die Kanalisation begegnet sie geisterhaften Kreaturen, seltsam anmutenden Mäusen mit Flügeln. Das bringt die Maus auf eine Idee: Sie will das Fliegen lernen und auf dem Luftweg Amerika erreichen, um endlich wieder mit ihren Freunden vereint zu sein.

Sofort konstruiert die Maus als erstes Fluggerät – analog zur Geschichte der Fliegerei – einen Fluggleiter. Der Hamburger Hauptbahnhof wird zum Testgelände für einen ersten Flugversuch auserkoren. Doch die erste Konstruktion taugt nicht so recht, und die Enttäuschung der Maus ist entsprechend groß. Wie sie so zwischen den Dampflokomotiven im Bahnhof sitzt, kommt ihr die zündende Idee: Ihre Flugmaschine braucht einen Dampfmotor.

In unermüdlicher Arbeit und mit technischer Genauigkeit konstruiert die Maus aus zahlreichen Bauteilen eine dampfbetriebene Flugmaschine. Doch auch der Flugversuch mit dieser Maschine scheitert – und schlimmer noch: Die Eulen Hamburgs sind auf die fliegende Maus aufmerksam geworden, sie wittern Beute. Es wird nun immer schwieriger, neue Bauteile zu beschaffen, um endlich das Flugzeug bauen zu können, das die Maus nach Amerika bringen kann.

Die Lage spitzt sich immer weiter zu, die Eulen scheinen fest entschlossen, die Flugpläne der Maus zu durchkreuzen. Kann die Maus den Krallen ihrer Feinde entkommen? Wird sie den Atlantik unversehrt überqueren können? Und wird sie ihre Mäusefreunde wiedertreffen?

Das Buchcover zeigt die „Spirit of St. Louis“, das Flugzeug Lindberghs. Ein kleiner Spot ist hier schon auf die Maus gerichtet, die mit ihrer ersten Flugapparatur in das Bild montiert ist. Eine große Stärke des Buches ist die Analogieführung von Technikgeschichte und fiktionaler Erzählung und deren gelungene Verzahnung, indem Kuhlmann die Schilderung der Historie (im wahrsten Sinne des Wortes) einbindet in seine fantastische Erzählung. „Eine kurze Geschichte der Luftfahrt“ – ebenfalls bebildert – fasst am Ende des Werks die technikgeschichtlichen Fakten noch einmal zusammen.

Die hinteren und vorderen Vorsatzblätter des Bilderbuchs enthalten schraffierte Kohlezeichnungen im Stile der überlieferten Konstruktionsskizzen Leonardo da Vincis. Es ist beeindruckend, wie genau, detailliert und technisch versiert (in künstlerischer wie in erfinderischer Sicht) Kuhlmann hier ‚seine‘ Maus und deren Flugapparate in die Skizzen im Stile Leonardos integriert.

Sowieso ist Kuhlmanns Liebe zum Detail prägend für die Illustrationen in „Lindbergh“. In pseudodokumentarischen Zeitungsausschnitten werden beispielsweise die beiden Erfinder der Mausefalle erwähnt, Leonardo da Vincis Selbstportrait ist in einem aufgeschlagenen Buch abgebildet, welches die Maus studiert hat, die Schreibmaschine der Marke Flieger(!) weist jede einzelne Taste korrekt auf, und die Städteansichten und -bilder sind offenbar nach historischen Aufnahmen gefertigt. Die durchgehend mit Schraffuren und Aquarell gearbeiteten, (foto)realistischen Bilder sind durchgehend in Sepia-Optik gehalten, Brauntöne dominieren, Grauschattierungen ergänzen sie und führen zu plastischen Darstellungen von Wolken (Flugszenen), Dampf (Bahnhof, Schiffe, Motor) und Schattenspielen (Bibliothek, Abwasserkanal, Hafen).

Kuhlmanns Faible für Licht spiegelt sich in jedem Bild und untermalt den Realismusanspruch des Künstlers. Vor allem die Auswahl an Vogelperspektiven (z. B. der Flugversuch im Bahnhof, die Ankunft in New York) und die bedrohlich ausgearbeiteten Widersacher und Hindernisse der Maus (Katze und wartende Menschen am Hafen, die mit den hohen Schornsteinen bildlich nahezu verwachsenen ‚Eulenstatuen‘) leben von der teilweise sichtbaren Lichtquelle. Auf diese Weise werden die Bilder einer von Sonnenlicht durchbrochenen Wolkendecke oder auch die Bedrohung durch eine Übermacht an Mausefallen zu einem beinahe cineastischen Erlebnis. Beeinflussungen durch die Bildsprache des Film noir sind offenkundig.

Im Hamburger Hauptbahnhof sitzt die Maus mit angelegtem Gleitflügler auf einer großen Bahnhofsuhr, welche das linke Bilddrittel dominiert. Nur schemenhaft finden sich darunter Menschen, die in ein Spiel von Licht und Schatten getaucht sind, was durch dunkle Mäntel und Hüte noch verstärkt wird. Dementsprechend fällt auch die Farbwahl auf diesem Bild aus: Grau- und Brauntöne, durchsetzt von punktuellem Blassgelb. Einzig die Maus ist mit rosa Farbtupfern (Ohr, Nase, Fuß) versehen. Die rechte Bildhälfte widmet sich dem Dampf und den Lokomotiven. Kuhlmann komponiert hier ein Aufeinandertreffen von veralteter und moderner Technik. Die Maus wird erst durch den missglückten Flug auf die Idee kommen, einen Dampfmotor zu kreieren.

Hervorgehoben seien auch die Abbildungen von gemalten Fotowänden und Postkarten, die im Stile einer Graphic Novel z. B. die verzweifelte Suche der Maus nach Freunden illustrieren, eine Galerie von Eulenportraits präsentieren oder den Transatlantikflug der Maus ausführlich dokumentieren. Nicht nur durch das Einmontieren von Abbildungen historischer Gegenstände und Ansichtskarten, von Plakaten und vorgeblich dokumentarischen Zeitungsartikeln gelingt es Kuhlmann, mit seinem Bilderbuch den Eindruck zu erwecken, es stamme direkt aus der Zeit, in der die Geschichte selber spielt: den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Bereits der Vorderdeckel wirkt abgenutzt und an den Rändern berieben, auf dem Rückdeckel finden sich ‚Stockflecken‘, ein ungenau aufgebrachter alter Poststempel und ein Zustellvermerk – die letzteren kehren häufiger wieder. ‚Geschichtlichkeit‘ suggerieren auch die vielen ‚Benutzerspuren‘ auf den einzelnen Seiten, die ‚Papierverfärbungen‘, ‘Flecken‘ und ‚Wasserspuren‘: Diese Geschichte der Fliegerei ist offenbar schon häufig gelesen worden ...

Zu kurz kommt bei Kuhlmann leider der Text (Mitarbeit: Suzanne Levesque). Er schafft es zu keiner Zeit, seinen pointierten Zeichnungen, einfallsreichen Kompositionen und detailgetreuen Darstellungen real existierender Orte (Hamburg, London, New York) einen angemessenen autarken bzw. ergänzenden Text zur Seite zu stellen. Hinzu kommt phasenweise eine die Zielgruppe (Kinder ab fünf Jahren) stark überfordernde Wortwahl („Labyrinth“, „geisterhafte Kreaturen“, „Heureka!“, „Konstruktion“, „klobige Silhouetten“ usw.).

Kuhlmann erinnert auf dem Rückdeckel seiner auch als Mutmachgeschichte zu lesenden Erzählung „Lindbergh“ verschlüsselt an den ersten Menschen auf dem Mond, der den Entdeckertrieb und die Weltraumforschung bahnbrechend beeinflusste: „Ein Wagnis für eine kleine Maus – ein großer Schritt für die Fliegerei“. Man möchte ergänzen: Ein großer Wurf von Kuhlmann – ein fesselndes, beinahe kinoreifes Erlebnis, das bereits jetzt völlig zu Recht mit Preisen und Auszeichnungen überhäuft worden ist (u. a. Auszeichnung von der Stiftung Buchkunst als eines der schönsten deutschen Bücher 2014, Die besten 7 Bücher für junge Leser, Luchs, Buch des Monats der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur).

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