Priestley, Chris: Dead Eyes – Der Fluch der Maske
Abenteuer in Amsterdam
von Sabine Berg (2014)
Alex hat gerade eine schwierige Zeit durchgemacht. Seine Eltern haben sich getrennt, und er ist damit nicht gut zurechtgekommen. Sein Gefühlsleben ist aus den Fugen geraten, und so hat er immer mehr die Kontrolle verloren – bis er eine Auszeit von der Schule verordnet bekommen hat.
Sein Vater, ein englischer Historiker, hat Verlagsgeschäfte in Amsterdam zu erledigen und nimmt seinen Sohn mit. Die für Alex zum Nachdenken und Neubesinnen geplante Zeit verläuft aber anders als gedacht. Da der Vater zusammen mit der Verlegerin seinen nicht nur geschäftlichen Verpflichtungen nachgeht, verbringt Alex die Tage ohne ihn. Als Begleitung – oder besser: Aufpasserin – wird dem Jungen die Tochter der Verlegerin zur Seite gestellt. Angelien, eine Geschichtsstudentin Anfang zwanzig, soll Alex die interessanten Seiten Amsterdams zeigen. Diese Aufgabe übernimmt sie nicht ganz freiwillig, wie Alex bald erfahren muss.
Schon bei der Ankunft in dem alten Hotel verspürt Alex eine seltsame Beklemmung und fühlt sich beobachtet. Ein ähnliches Unbehagen umfängt ihn auch, als er bei einem Flohmarktbesuch mit Angelien eine Maske entdeckt; „die Maske war ein vollständiges Gesicht, und nach der krakelierten, leicht abgenutzten Oberfläche zu urteilen, zudem auch noch sehr alt. Sie schien ihn mit leeren Augen direkt anzustarren“. Wie unter Zwang kauft Alex die Maske und nimmt sie mit in sein Hotelzimmer. Er ist von ihr fasziniert und gleichzeitig abgeschreckt. Seine Gefühle kann er sich selbst nicht erklären.
In den nächsten Tagen erlebt Alex einige unerklärliche und verstörende Dinge. Langsam kommt er gemeinsam mit Angelien einem Geheimnis auf die Spur, das sich in dem alten Hotel vor mehreren Jahrhunderten abgespielt hat und in dem die Maske eine wichtige Rolle einnimmt.
Die Geschichte in Chris Priestleys neuem Buch „Dead Eyes – Der Fluch der Maske“ wird von einem außenstehenden Erzähler dargeboten. Da dabei jedoch nahezu immer die Wahrnehmungsperspektive des Protagonisten eingenommen wird, kann man sich sehr gut in Alex und dessen Gefühlsleben hineinversetzen. Nach und nach erfährt man, warum er seinen Vater begleitet. Die derzeitige Situation des Jungen, die Trennung seiner Eltern – für die er seine Mutter verantwortlich macht – und die daraus resultierenden Probleme sind durchaus einfühlend beschrieben. Seine Beziehungen zu den Menschen in seinem Leben werden im Verlaufe der Geschichte immer deutlicher. Durch die gewählte Darstellungsweise folgt der Leser dabei den Einschätzungen des Protagonisten, aber diese sollen sich gegen Ende als überhaupt nicht verlässlich herausstellen. Insgesamt wirkt die Figur Alex wenig konturiert, nicht einmal sein Alter wird genannt. Durch sein Verhalten schätzt man ihn als pubertierenden Jungen ein: Mal handelt er sicher und gewandt wie ein selbstbewusster junger Mann, dann wieder reagiert er trotzig oder bricht gar aus eher nichtigem Anlass in Tränen aus. Man erfährt, dass er zur Schule geht und Mädchen für ihn interessant zu werden beginnen. Doch mit seinen Gefühlen weiß er nicht gut umzugehen. Das hatte ihn schon in die unheilvolle Situation gebracht, die zu seiner Beurlaubung führte: Er war von einem Mädchen aus seiner Schule „wie besessen“ gewesen und nur knapp einem Schulverweis wegen Cyber-Stalkings entgangen. In Amsterdam trifft er mit Angelien erneut ein Mädchen, für das er starke Gefühle entwickelt, dessen Spiel mit ihm er aber überhaupt nicht durchschauen kann.
Die Maske, die er auf dem Flohmarkt erworben hat, entdeckt Alex einige Tage später anlässlich eines Museumsbesuchs mit Angelien auf einem Gemälde wieder. Auf dem Bildnis wird sie von einem Mädchen getragen, das – wie sich dann herausstellt – mit seinem Vater in eben dem Haus gelebt hat, das nun als das Hotel dient, in dem Alex und sein Vater Quartier genommen haben. Durch das Aufsetzen der Maske kann sich Alex nicht nur in die frühere Trägerin – Hanna van Kampen ist ihr Name – hineinversetzen, er scheint vielmehr wie sie zu erleben und zu fühlen.
In seinen Bemühungen um die Aufklärung des Geheimnisses der Maske wird Alex von Angelien unterstützt. Sie recherchiert als Historikerin für eine Abschlussarbeit zum Thema Amsterdam und ist nachgerade eine Expertin mit Detailwissen, da ihr Forschungsgegenstand die Geschichte des besagten Hauses ist. Alex‘ Erlebnisse mit der Maske und Angeliens Recherchen fügen sich puzzleartig zur Geschichte Hannas: Sie ist auf fürchterliche Weise von ihrem Vater – dessentwegen die Mutter die Familie bereits verlassen hatte – gequält und schließlich in den Selbstmord getrieben worden. Dahin drängt die Maske, die von einem Dämon besessen zu sein scheint, auch Alex, der erst im letzten Augenblick gerettet werden kann und erkennen muss, dass er die Teile des Puzzles falsch zusammengesetzt hat und sich alles ganz anders verhält, als er gedacht hat. Da er die Verhältnisse im Hause van Kampen immer auch auf die Zerrüttung seiner Familie gespiegelt hat, dämmert es Alex am Ende, dass das Auseinanderbrechen der Ehe seiner Eltern wohl andere Gründe hatte, als er bisher angenommen hat ...
Chris Priestley, der britische Autor, Illustrator und Cartoonist, der in Deutschland vor allem durch seine Schauergeschichten für ein jüngeres Publikum bekannt geworden ist, legt mit „Dead Eyes“ einen längeren Erzähltext vor, der – gerade im Vergleich mit seinen kürzeren Horrorstories – literarisch nicht so recht zu überzeugen vermag. Auch wenn bei „Dead Eyes“, ähnlich wie etwa in „Onkel Montagues Schauergeschichten“, durch den mysteriösen Schluss das Kopfkino angeregt wird, mangelt es dem Werk doch an der zündenden Komposition, die die kürzeren Erzählungen auszeichnet. Die in gleicher Abfolge gebauten Kernhandlungen sind additiv aneinandergereiht, die kleinen Spannungsbögen sind nach vergleichbarem Muster geformt, und ein großer Spannungsbogen ergibt sich vornehmlich durch die Aufeinanderfolge der einzelnen Situationsspannungen. Hinzu kommt, dass die – in ziemlich hölzernen Dialogen miteinander kommunizierenden – Charaktere eher flach angelegt und Verhaltensweisen und Handlungen nur selten handlungsfunktional motiviert sind.
Gleichwohl gelingt es Priestley auch in „Dead Eyes“, eine mystische Atmosphäre von Horror und Suspense zu schaffen. Und ganz zum Schluss vermag er es dann doch, durch Nutzung des Überraschungsschemas die Spannung auf den Siedepunkt zu treiben, indem er das Ende des Geschichte als Pointe inszeniert: Auf den letzten Seiten wird es nämlich noch einmal richtig gruselig, denn die Maske hat ein Eigenleben entwickelt ...
Für den Roman gibt der Verlag eine Altersempfehlung von zwölf bis fünfzehn Jahren. Wie in Romanen für diese Altersgruppe häufig, geht es in der Geschichte sehr stark um das Gefühlsleben des Protagonisten. Dessen familiäre Probleme, Verliebtheit und seine Auseinandersetzung mit sich selbst werden nachvollziehbar geschildert. Im Vordergrund steht aber die Erregung von Angstlust, die Erzeugung von Schauer und Grusel. Beide Aspekte machen „Dead Eyes“ zur geeigneten Lektüre insbesondere für Jungen.