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Claude K. Dubois:
Akim rennt
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel
Frankfurt am Main: Moritz 2013
44 ungez. Bll.
€ 12,95
Bilderbuch ab 6 Jahren

 

Dubois, Claude K.: Akim rennt

Aus der Ferne sind Schüsse zu hören 

von Rita Weiß (2014)


Der kleine Akim bastelt in einem Zimmer seines Elternhauses ein Spielzeugboot, das er sogleich am Ufer des Kuma-Flusses ausprobiert. Es weht eine leichte Brise, sie bewegt die Wäscheleine hin und her. Weit oben in den Wolken kreisen Vögel. Plötzlich sind es keine Vögel mehr, die am Himmel zu sehen sind, sondern Flugzeuge, die im Formationsflug näherkommen. Die Kinder betrachten sie gebannt. Und dann? Riesige schwarze Rauchschwaden, die bis in den Himmel reichen, Bombeneinschläge und herumfliegende Teile, die durch die Wucht der Zerstörung zu tödlichen Geschossen werden. Akim und die anderen Dorfbewohner fliehen vor dem Chaos, das wie aus dem Nichts auf sie hereingebrochen ist.

Noch während der Bombenangriffe rennt Akim zurück zu seinem Elternhaus in der Hoffnung, seine Familie dort anzutreffen, doch niemand ist dort. Ein Erwachsener versucht ihm zu helfen und zieht ihn an seiner Hand – aber Akim kann nicht Schritt halten und bleibt zurück. Verloren läuft der Junge in den Trümmern des Dorfes umher, Verletzte und Tote liegen auf dem Boden. Er findet einige Überlebende, die sich in die Überreste eines Hauses flüchten: Eine Mutter, die einen Säugling in den Armen hält, lässt ihn zu sich kommen.

Das Bilderbuch „Akim rennt“ der belgischen Autorin und Illustratorin Claude K. Dubois thematisiert die Auswirkungen eines Krieges auf Kinder und Erwachsene. Es geht um die Flucht eines Jungen und um all das Leid, das ihm auf dieser Flucht widerfährt. Dabei gibt es eine klare Trennung der Bild- und Textanteile: Mehrfach finden sich auf der linken Seite reine Textseiten auf blass-altrosafarbenem Grund, in denen in beinahe nüchternen Worten und kurzen Sätzen das Geschehen erzählt wird. Diesen kurzen Texten folgen jeweils lange Bildsequenzen (mitunter sind es neun Seiten), die nicht nur das zuvor Erzählte illustrieren: Oft gehen die Bilder in der Darstellung von Akims Erleben weit über den Text hinaus, viele Informationen erhält man ausschließlich durch die Bilder. So kann man zum Beispiel nur den Illustrationen entnehmen, dass Akim in einer Ecke des Unterschlupfes ein Kuscheltier findet, das ihn fortan wie ein schützendes Symbol begleitet.

Als Soldaten das Dorf besetzen, gerät Akim mit einigen anderen Kindern in Gefangenschaft und „muss die Soldaten bedienen“. Wieder zeigen die Bilder mehr als das, was im Text gesagt wird. Geradezu grotesk erscheint der Unterschied der übermächtigen Soldaten zu den kleinen Kindern. Die Kinder werden oft in gebückter Haltung oder kauernd dargestellt. Anders die Soldaten: Sie treten scheinbar riesengroß und oft nur ausschnitthaft in Erscheinung, bleiben gesichtslos. Auf einem Bild sieht man dann nur noch einen Soldatenarm, der ein Kind packt.

Nach einiger Zeit kommt es zu einem erneuten Raketenangriff, und Akim gelingt die Flucht. Das Kind läuft lange alleine durch das Gebirge. Dann trifft der Junge auf weitere Flüchtlinge, denen er sich anschließt. Nach einem langen Fußmarsch gelangt die Gruppe an die Grenze, und schließlich bringt sie der Laster einer Hilfsorganisation in ein Flüchtlingslager. Dort bekommt Akim zwar sauberes Wasser, etwas zu essen und einen Schlafplatz, doch die Gedanken an seine Familie und die schrecklichen Bilder des Krieges quälen ihn und lassen ihn nicht los. Als eines Tages seine Mutter gefunden wird, kann Akim ihr endlich in die Arme laufen.

Inmitten der Grausamkeit und des Leids trifft Akim auch auf Menschen, die ihm helfen. Sei es der Mann, der ihn anfangs mit sich zieht, die Frau, die ihn nachts an sich drückt, oder die alte Frau mit dem Säugling, der er auf der Flucht begegnet – immer wieder wird ihm auch eine helfende Hand angeboten. Dieses Bild steht dem harten Griff des Soldaten gegenüber und lässt Hoffnung inmitten des Grauens aufschimmern. Gleichwohl wird verdeutlicht, wie sehr der Junge auf die Hilfe anderer angewiesen ist – und auch, wie sehr er seinem Schicksal ausgeliefert ist.

Claude K. Dubois hat bereits zahlreiche Bilderbücher vorgelegt. Mit „Akim rennt“ erschließt sie nun ein im Bilderbuch bislang nicht behandeltes Thema. Dabei bedient sie sich einer für sie neuen Bildsprache. Ein wenig erinnert „Akim rennt“ in seiner Komposition und seinen oft skizzenhaften Zeichnungen an ein Storyboard.

Im Gegensatz zu weichen und runden Formen in den Zeichnungen stehen lediglich angedeutete Umrisslinien, die Chaos und Zerstörung ausdrücken. Das Dargestellte wirkt oft unvollständig und hart. Der Wechsel von weichen Formen zur harschen und eckigen Bleistift- und Kohlezeichnung trifft die unheilverkündende Atmosphäre des Krieges genau auf den Punkt. Die Zerstörung der Dorflandschaft durch die Bombeneinschläge und die Flucht der Menschen in Todesangst werden durch das Schwinden der Konturen kenntlich gemacht. In den Zeichnungen, in denen Akim von einem Erwachsenen mitgezogen wird und den Anschluss verliert, vollzieht sich eine Dekomposition der Formen. Diese stellt verwischte Konturen dar, die Menschen als Schatten ihrer selbst präsentieren.

Claude K. Dubois verzichtet fast vollständig auf Farbe. Zurückhaltend benutzt sie eine rötlich-braune Aquarellfarbe, die mit dem Chamois des Blattes und den Bleistift- und Kohlezeichnungen ein schmutziges Rosa hergibt, mit denen die Bilder schattiert werden. Die Gesichtszüge der Erwachsenen sind meist ausdruckslos und manchmal völlig verschwommen, so als wären die Gesichter, wie das Dorf, von den Bomben ausradiert worden. Claude K. Dubois zeichnet Akim, die Mutter mit dem Säugling und die anderen Kinder mit präzisen, traurigen Gesichtszügen. Dies lässt die Flüchtlinge verletzlicher aussehen und erregt Anteilnahme. Die flauschigen, runden Formen von Dubois‘ bisherigen Bilderbuchfiguren wird der Leser in „Akim rennt“ nur in vereinzelten Szenen des Buches finden können, z. B. als Akim in den Armen einer Frau neben ihrem Kleinkind schläft.

Dubois ist es gelungen, in „Akim rennt“ ein sensibles, emotional geladenes und zugleich verstörendes Abbild des Krieges aus der Perspektive eines Flüchtlingskindes zu schildern. Sowohl Kindern als auch Jugendlichen kann man anhand dieses Bilderbuches und des exemplarisch geschilderten Schicksals die grausame Situation von Flüchtlingen in Krisengebieten nahebringen. Es ist ebenfalls ein Buch für Erwachsene, denn Erwachsene vergessen oft, und dies stellt das Buch in den Vordergrund, dass gerade wehrlose Kinder Schutz brauchen.

„Akim rennt“ ist ein Bilderbuch, das seine Leser in die Perspektive des Kindes versetzt, um Gefühle und Anteilnahme zu wecken und an die Einsicht zu appellieren, dass Flüchtlinge ein Recht haben auf Schutz und Asyl. Die schmerzhaften Eindrücke, die beim Durchblättern des Bilderbuches entstehen, berühren und schaffen auf diese Weise Zugang zu den Schicksalen tausender Flüchtlinge. Auch deshalb wird Dubois‘ Buch von den Menschenrechtsorganisationen Pro Asyl und Amnesty International unterstützt.

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