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Jenny Valentine:
Die Ameisenkolonie. Roman
Aus dem Englischen von Klaus Fritz
München: dtv premium 2011
215 Seiten
€ 12,90
Ab 14 Jahren
Jugendbuch

Valentine, Jenny: Die Ameisenkolonie. Roman

Aufhören, allein zu sein

von Daniel Giessmann (2011)

„Mein Name ist Sam und ich bin nicht von hier“: Der 17-jährige Sam ist von Zuhause ausgerissen. Nun lebt er in London, in einem kleinen Zimmer eines Mehrparteienhauses in der Georgiana Street 33. Er arbeitet für wenig Geld in einer „Art Laden für alles“, einem reichlich dubiosen Geschäft, in dem keine Fragen gestellt werden. Seine Zeit verbringt der Junge alleine und versucht, einer ihn belastenden Vergangenheit zu entfliehen.

Die zehnjährige Bohemia – kurz Bo – hat in ihrem jungen Leben bereits einiges mitgemacht. Mit ihrer jungen Mutter Cherry lebt sie ein Nomadenleben. Die beiden ziehen von Mann zu Mann – Derek, William, Paul, Ray heißen die Stationen in Cherrys und Bohemias Leben. Immer bleibt Cherry abhängig – von Männern, von Alkohol, von Drogen – und kümmert sich nie richtig um ihr Kind. Nachdem Cherry abermals scheitert, zieht sie mit Bohemia in ein Mehrparteienhaus in London – in die Georgiana Street 33. Bo kommentiert: „Ich mag es, irgendwo neu zu sein, weil es eine Menge zu tun und anzusehen und drüber nachzudenken gibt, und es dauert länger als sonst, bis es dich stört, dass du allein bist.“

Sam isoliert sich völlig in seinem kargen Zimmer. Die Nachbarn bleiben für ihn zunächst nur vage Schatten im Gemeinschaftsbad oder Stimmen, die er durch sein Fenster hört. Bohemia hingegen interessiert sich sehr für die anderen Bewohner: Steve, den schmierigen Vermieter, Isabel, die ältere Dame mit ihrem ewig pinkelnden Hund Matte, den tätowierten Mick – und Sam, den Einzelgänger.

Als Sam Bohemia dabei erwischt, wie sie eine Flasche Vodka für ihre Mutter stehlen will, er sie aber dennoch nicht verrät, fasst Bo Vertrauen zu ihm und zwischen beiden entwickelt sich eine tiefe Freundschaft. Zwar versucht Sam nach wie vor, sein Alleinsein zu kultivieren – dem Charme der kindlich-naiven, gleichzeitig aber auch lebensklugen Bohemia, die auf ernüchternde Weise von ihrer Mutter allein gelassen wird, kann sich der eigenbrötlerische Junge aber nicht entziehen. Im Gegensatz zu Bohemia stammt Sam aus einem behüteten Haus, das er nur verlassen hat, weil er an einem beinahe tödlich verlaufenen Unfall die Schuld trägt und aus seinem alten Leben fliehen will – er kann und will sich der Verantwortung nicht stellen. In London möchte er verdrängen und stellt sich auf ein einsames Leben ein. Offensichtlich möchte er dieses aber gar nicht leben: zu sehr bindet er sich an Bohemia und zu sehr interessiert er sich auch für die Schicksale seiner Mitbewohner.

Die Beziehung zwischen Bohemia und Sam ist kompliziert. Die deutlich jüngere Bo hat in ihrem kurzen Leben bereits viel erlebt und wirkt im Gegensatz zu Sam viel selbstbewusster, abgebrühter und vor allem erfahrener. Sie teilt ihre Erfahrungen mit Sam und versucht, ihre und seine Welt zu verstehen. Gleichzeitig zeigt Sam Bo durch die gemeinsame Freundschaft ein Leben in Geborgenheit und Schutz, das sie bisher nie erlebt hat und das sie dazu bringt, ihre Mutter in Frage zu stellen. Beide müssen sich mit dem Alleinsein auseinandersetzen: Bohemia wird allein gelassen, während Sam im selbstauferlegten Exil nicht die ersehnte Erlösung findet.

Als der Junge, genervt durch Bos aufdringliche Art, seine Ungeduld an dem Mädchen auslässt, entschließt sich Bohemia zur Flucht. Für die Bewohner der Hauses in der Georgiana Street 33 beginnt nun ein völlig neues Leben – alle sorgen sich um das Kind und vertrauen sich, im Kummer vereint, ihre eigenen Geschichten an. Sie wachsen zusammen zu einer skurillen, aber sehr sympathischen Gemeinschaft und helfen einander, sich ihren Fehlern zu stellen. Schließlich machen sie sich gemeinsam auf, Bohemia zu finden.

Jenny Valentine gelingt es in ihrem Roman „Die Ameisenkolonie“, die Spannungskurve bis zum Ende hochzuhalten. Der Leser erfährt erst nach und nach, warum Sam von Zuhause weggelaufen ist und auch Bohemias Geschichte erschließt sich nur allmählich: Abwechselnd wird aus der Sicht Sams und Bohemias erzählt, zwischendurch ergänzen biographische Tagebucheinträge Bohemias die Geschichte. Die verschiedenen Emotionen und Eindrücke der Erlebnisse werden so anschaulich wiedergegeben. Dabei schafft es die Autorin, die vielen Zufälligkeiten, zeitlichen Rückblicke und interessanten Ereignisse realistisch zu vermitteln. Die vielschichtigen Charaktere werden mit jedem aufgedeckten Makel liebenswerter und die zusammengewürfelte Hausgemeinschaft wächst einem ans Herz. Dabei sind alle Figuren – besonders die schrullige und aufdringliche Isabel ist hervorzuheben – facettenreich und gekonnt dargestellt.

Durch ihre Flucht zeigt Bohemia Sam auf, wie schrecklich es ist, wenn jemand von Zuhause wegläuft: „Ich schrieb keine Nachricht. Das war Absicht. Soll Sam doch mal sehen, wie sich das anfühlt.“ Die Botschaft kommt an: Sam kann nun nachvollziehen, was er seinen Eltern angetan hat. Doch nicht nur auf Sam hat Bohemias Verschwinden Auswirkungen. Die Hausgemeinschaft wächst zusammen, Cherry erkennt ihr eigenes Fehlverhalten gegenüber ihrer Tochter und Sam lernt, mit seinen negativen Erlebnissen umzugehen. In den Motiven für die Fluchten von Sam und Bohemia liegt auch ein großer Unterschied der Charaktere: Sam läuft regelrecht davon, während Bo zwar aus Trotz wegläuft, jedoch ein ‚gutes’ Ziel hat: Sie befindet sich auf einer Mission und ist zielstrebig auf dem Weg zu Sams Familie.

Der Titel des Buches „Die Ameisenkolonie“ wird durch das Rein und Raus der Bewohner der Georgiana Street 33, deren Zusammenhalt in Notsituationen, aber auch durch einen Rückbezug auf Sams ‚altes Leben’ in das Buch einbezogen. Sams ältester und ameisenbegeisterter Freund Max hatte ihm ein Buch mit gleichem Titel geschenkt. „Wissen Ameisen, dass sie für die Kolonie arbeiten? Dass jede kleine Aufgabe, die sie erledigen müssen, bis sie am Ende sterben, tatsächlich einen sinnvollen Teil des Ganzen bildet? Wissen sie das? Ich jedenfalls wusste es mit Sicherheit nicht.“ So sagt es Sam, und gleiches gilt für das Haus in der Georgiana Street 33.

Die Autorin hat sich mit ihrem Debütroman „Wer ist Violet Park“ und dem mehrfach ausgezeichneten Roman „Kaputte Suppe“ (u. a. „Luchs“ der Wochenzeitung „Die Zeit“ und von Radio Bremen) einen Namen gemacht, den sie mit diesem Roman einen weiteren Höhepunkt zufügt. Einmal angefangen, kann man das Buch nicht mehr zur Seite legen. Jenny Valentine nimmt die bekannte Weisheit „Nur gemeinsam ist man stark“, vermengt sie mit bunten Charakteren, fügt Charme, Witz und Tragik hinzu und schafft ein absolut lesenswertes Buch für junge und alte Leser.

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