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Karl-Heinz Mai(Fotografien) und Herbert Günther (Texte):
Wir Kinder von früher. Bilder und Geschichten aus einer anderen Zeit
Idee und Gestaltung: Franziska Neubert
Leipzig: Klett Kinderbuch 2011
127 Seiten
€ 19,90
Ab 7 (zum Vorlesen) bzw. 9 Jahren (zum Selberlesen)
Illustriertes Kinderbuch

Günther, Herbert (Text) und Karl-Heinz Mai (Illustration): Wir Kinder von früher. Bilder und Geschichten aus einer anderen Zeit

Gelebte Vergangenheit

von Fabian Hille (2011)

Mit ,,Wir Kinder von früher’’ erscheint ein bemerkenswertes Kinderbuch im Klett Kinderbuchverlag, das mit einer gelungenen Verbindung von eindrucksvollen Fotografien und fantasievollen Geschichten zu einer Reise in die Vergangenheit einlädt.

Präsentiert wird eine Sammlung von Bildern aus dem Nachlass des bereits 1964 verstorbenen Leipziger Fotografen Karl Heinz Mai. Die Fotografien stammen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit und sind Dokumente der damaligen Lebensumstände: Eine gelungene Auswahl von hauptsächlich Kinderfotografien ermöglicht Einblicke in die alltägliche kindliche Realität der damaligen Verhältnisse. Herbert Günther – selbst ein Kind der Nachkriegszeit – ergänzt die Bilder um kleine Geschichten und Unterschriften. Dabei beweist der Autor durchweg ein aufmerksames Auge für das Detail und konstruiert lebendige und fantasievolle Geschichten rund um den jeweiligen Bildausschnitt.

Die kurzen Geschichten sind fiktive Assoziationen des Autors zu den Bildern. So hat es die Henriettenstraße in Leipzig oder das Dorf namens Bockeloh, Schauplätze vieler der Geschichten, in der Realität nie gegeben. Ebenso erdacht ist der Ich-Erzähler, der als Nachkriegskind die Bilder rückblickend kommentiert. Man begleitet ihn auf Bildern und in den Geschichten vom Kleinkindalter bis zum Ende der vierten Klasse und lernt dabei auch die ihn umgebende Welt genauer kennen. Bei der Lektüre muss dabei nicht zwingend eine Reihenfolge eingehalten werden, man kann das Buch aufschlagen und in eine der kurzen Geschichten eintauchen.

,,Ludwig war der wildeste Schlittenfahrer auf unserer Rodelbahn. Er fuhr immer von ganz oben mit Anlauf, hechtete auf seinen Schlitten, raste bäuchlings durch alle Kurven und rief dabei: ,Bahn frei, Kartoffelbrei!’’’. Die ganze Bandbreite der Lebensumstände nach dem Krieg wird authentisch dargestellt: Die Unbekümmertheit der Kindheit ist dabei genauso Bestandteil wie es auch die beklemmenden Wahrheiten sind. So sieht man die Folgen des Krieges in den Trümmerlandschaften, der Armut, der Nahrungsknappheit, den gezeichnet zurückgekehrten Männern oder den Waisenkindern. Doch auch mit den vereinzelt harten Tatsachen bleibt das Buch kindangemessen und bietet ein facettenreiches Repertoire heiterer, ernüchternder, aber auch tröstender Inhalte an.

Der Fotograf Karl Heinz Mai kehrte schwerverletzt aus dem Krieg zurück. Ihm wurden beide Beine amputiert, weshalb er sich in einem ,Selbstfahrer‘-Rollstuhl durch seine Heimatstadt bewegte. Diese Tatsache bedingt auch ein Charakteristikum seiner Bilder: Sie sind häufig in etwa auf Augenhöhe mit den Kindern fotografiert oder auch untersichtig. Die Motive sind aus dem Leben gegriffen; manchmal komponiert Mai bewusst gestellte Arrangements, bei etlichen Bildern handelt es sich wiederum um anscheinend ungeplante Schnappschüsse. In dem Buch finden sich 136 seiner mehr als 1000 Kinderfotos. Den meisten Aufnahmen sind Geschichten zugesellt, einige Doppelseiten jedoch sind mit vielen kleinen Bildern und kurzen Bildunterschriften versehen. Farbige handschriftlichen Überschriften und Illustrationen von Franziska Neubert – die auch die Idee zu diesem außergewöhnlichen Werk hatte – runden den ansprechenden Gesamteindruck ab. Das Buch erscheint damit nicht nur als würdiges Erbe der Arbeit des Fotografen – durch die gelungene Komposition ist etwas ganz Besonderes, für ein Kinderbuch Neues entstanden.

,,Geschichten können Brücken sein über Zeiten, über Grenzen und über soziale Verhältnisse hinweg.’’ Dies äußerte Herbert Günther in einem Interview und man darf ihm zustimmen. Seine Darstellungen sind ein Vorschlag, regen sie doch gleichermaßen die eigene Vorstellungskraft, aber auch die kindliche Neugierde an. Bei älteren Lesern können Erinnerungen hervorgerufen oder Erzählungen von früher wieder bewusst werden. Eigene Assoziationen können mit den Fotografien und Erzählungen verbunden werden und eine emotionale Beteiligung und Identifikation mit der Szene ermöglichen. So ist das Buch auch eine Einladung zum Gespräch. Die Paarung von echten Bildern mit imaginierten, pointierten Geschichten macht einen Blick in dieses Buch für jedermann absolut lohnenswert.

Sprachlich bleibt Günther auf einer erzählenden Ebene, schlicht, verständlich und eher im mündlichen Stil gehalten. Dieses Buch ist somit bereits ab einem Alter von sieben Jahren auch zum Vorlesen geeignet.

Das Buch ,,Wir Kinder von früher. Bilder und Geschichten aus einer anderen Zeit’’ gibt das Leben der Kinder in den Jahren nach 1945 glaubhaft wieder und ist auf diese Weise auch ein Stück kulturellen Gedächtnisses. Dabei hat es nicht den Anspruch, ein Geschichtsbuch zu sein. Vielmehr ist es ein erfrischendes und innovatives Kinderbuch, das es versteht, sowohl zu unterhalten als auch einen interessanten und lebendigen Einblick in ein vergangenes Kapitel der deutschen Geschichte zu bieten. Nicht ohne Grund zählt das Buch zu der Bestenliste des Deutschlandfunks im Juni 2011, ,,Die besten 7 Bücher für junge Leser’’.

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