skip to content

Titelbild
Robert Seethaler:
Jetzt wirds ernst. Roman
Zürich: Kein & Aber 2010
303 Seiten
€ 19,90
Junge Erwachsene ab 16 Jahren

Seethaler, Robert: Jetzt wirds ernst

Das Drehbuch der ersten 17 Jahre 

von Susanne Förster und Nadine Seidel (2011)
Ein stockbetrunkener Apfelbaum, der ins Publikum einer Kindertheateraufführung stürzt und das Bewusstsein verliert – mit diesem Ereignis beginnt der 17-jährige namenlose Ich-Erzähler seine Geschichte, die ihn Schauspieler werden und seine Kleinstadt verlassen lässt. Der Leser erfährt erst auf den letzten Seiten, dass der Protagonist bereits im Bus Richtung Großstadt und großen Bühnen sitzt, während er – im zweiten Kapitel in „Blechtrommel“-Art die eigene Geburt schildernd – nun chronologisch von den Dramen und Komödien seines Lebens zu berichten beginnt.

Ins Rampenlicht gelangt er zum ersten Mal mit sechs Jahren – allerdings eher unkonventionell motiviert: Er wird ungewollt zum Mitspieler im Kasperletheater, als er auf die Bühne stürmt, um dem Kasper den Kopf abzureißen. Den hatte der Protagonist von Anfang an für einen Idioten gehalten. Als er sich Jahre später in seine Mitschülerin Lotte verliebt, kehrt er auf die Bühne zurück. Lotte ist Mitglied der Schultheatergruppe und liest in der Pause aus Tschechows „Möwe“, welches der Protagonist zunächst für ein Tierbuch hält. Lotte zuliebe tritt er sofort dem Schultheater bei und wird zum echten Liebhaber – des Theaters, nicht Lottes, denn die hat sich in seinen besten Freund Max verknallt. „Ich möchte Schauspieler werden“, teilt er schließlich seinem Vater mit, bricht die inzwischen begonnene Lehre in dessen Friseursalon ab, zieht aus und beginnt im einzigen Theater der Stadt, die in der tiefsten Provinz liegt, zu arbeiten und zu lernen.

Dass Schauspieler zu sein mehr bedeutet als auf der Bühne zu stehen, wird ihm klar, als er die ersten Stunden bei den Theaterbetreibern Janos und Irina nimmt. „Du kannst nicht gehen. Du kannst nicht stehen. Du kannst nicht sprechen“, kritisiert Janos, „aber du bist lustig!“ Und so erhält er Stimmtraining, Gehtraining, Tanztraining. Eines Nachts beginnt er zu lesen, arbeitet sich quer durch die europäischen Dramatiker bis hin zu Shakespeare, der ihn zum Weinen bringt und mehr mitreißt als alles andere. Endlich kommt es auch zu den ersten Auftritten, in denen er unter anderem besagten Apfelbaum spielt. Nicht nur Theater und Selbstfindung, auch Freundschaft, Mädchen und Tod der Mutter sind Themen in diesem Drehbuch des Heranwachsens.

Eine wichtige Rolle nimmt Max ein, der immer an seiner Seite ist. Die beiden kennen sich bereits seit der ersten Klasse, als sie nach einer Schlägerei Blutsbrüder werden. Ihre enge Freundschaft dauert über die Jahre an, auch wenn sie manchmal von Konkurrenz geprägt ist. So bekommt der „verteufelt gut aussehende“ Max Lotte. Bevor die beiden Freunde daraufhin zum Normalzustand zurückkehren können, prügeln sie sich grün und blau, um schließlich erschöpft, versöhnt – und handhaltend – auf dem Ackerboden zu liegen.

„Nichts wissend, aber alles ahnend“ wartet der Ich-Erzähler auf eine Freundin, auf Sex und die Erfüllung seiner Sehnsucht. „Ich werde ungevögelt sterben“, ist er sich sicher und beobachtet die Mädchen, die ihn quälend anziehen, die er sich aber nicht anzusprechen traut.

Der Protagonist ist kein cooler Typ, der alles unter Kontrolle hat. Will er auch gar nicht sein. Er ist ein Sonderling, nicht ausgestoßen, aber auch nicht mittendrin in der Meute der coolsten Jugendlichen. Als sympathischer Anti-Held stolpert er vielmehr durchs Leben und Erwachsenwerden. So zieht sich das Motiv des Fallens durch die ganze Geschichte. Ständig liegt der Protagonist irgendwo – umgehauen vom Alkohol, der fetten Tinka, dem Streit mit Max, dem Glück. Dann steht er wieder auf und macht weiter. Irre komisch, zum Teil aber auch beinahe tragisch sind dabei seine Schilderungen, die den Leser regelmäßig laut auflachen lassen.

Auffällig sind die Parallelen des Lebens des Protagonisten zur Figur des Wilhelm in Goethes „Wilhelm Meisters theatralische Sendung“: Wie dieser geht er nicht den gewöhnlichen Gang der Schule und arbeitet nur zeitweise im elterlichen Betrieb. Für beide nimmt das Theater eine wichtige Rolle ein, ist sowohl der Schlüssel zu Bildung als auch der Ort, an dem sie zu sich selbst finden. Im Gegensatz zu Goethes Werk ist „Jetzt wirds ernst" allerdings kein Theater- und Künstlerroman, sondern insbesondere ein Ich-Findungs-Roman, der die Entwicklung eines jungen Mannes über mehrere Jahre widerspiegelt.

Seethalers Wortwahl ist abwechslungsreich, und die Vergleiche sind mitunter satirisch. Eine verliebte Mitschülerin wird beispielsweise als „kleiner Teufel, stark wie ein Schimpanse“ gesehen. Bisweilen klingen die Beschreibungen abstoßend: blubbernde Pickelkrater, wabbelnde Doppelkinne. Einige Ausdrücke tauchen ständig auf und sind dadurch etwas ermüdend. Immer hängt Rotz aus diversen Nasen, und ständig gibt es Knirsch-, Kreisch- und Knarrgeräusche, in Gelenken, Gebäuden, im Herzen, unter den Füßen.

Unterteilt ist die Geschichte in 43 Kapitel – mit klangvollen Titeln wie „Ein Riss im Universum“ oder „Dreipersonenstücke mit Scheißnamen“ –, die alle auch als separate kurze Erzählungen gelesen werden könnten. Die Handlung wird regelmäßig durchbrochen von Einschüben, in denen das aktuelle Geschehen verlassen wird. Virtuos entwirft Seethaler dann vorgeburtliche Szenarien und rafft als Einführung neuer Figuren ganze Stammbäume und Biographien zusammen, in einer Art, die häufig an Grass’ Oskar Matzerath denken lässt.

Seethaler relativiert die vom Ich-Erzähler als Wendepunkte empfundenen Geschehnisse, indem er die Beschreibungen solcher Situationen mit dem Blick auf Nebensächlichkeiten enden lässt, z. B. dem Klirren des Kronleuchters beim Umzug in die erste eigene Wohnung. Nahezu vernichtend wird Seethalers Blick, wenn es um Bigotterien geht: Gnadenlos werden lächerliches Politikertreiben, gruseliger Umgang von sich hassenden Eheleuten und die Riten der Kleinstadt-Hautevolee seziert.

Die Skurrilitäten des Lebens werden stets auf Augenhöhe des Erlebenden geschildert, die scheinbaren und tatsächlichen Dramen eines Heranwachsenden so beschrieben, dass sich ein pubertärer Leser getröstet und ein erwachsener Leser an die eigene Adoleszenz erinnert fühlt. „Jetzt wirds ernst" eignet sich für Leser ab 16 Jahren und kann genauso von Erwachsenen gelesen werden.

Leseprobe