Haele, Jeroen van (Text) und Sabien Clement (Illustration): Die stille See
Das Meer in mir
von Katharina Hagen und Imke Lammers (2007)
„Höher als der höchste Felsen werde ich klettern // um Worte zu hören – // Gesprochen vom Wind // Gesungen vom Meer“ –
Emilio lebt mit seiner Familie in einem kleinen Dorf an der spanischen Küste. Der Junge ist von Geburt an gehörlos und kann kaum sprechen, das Rauschen des Meeres kann er sich nur vorstellen, und dennoch trägt er es in sich. Sein Vater – „der Alte“ – bringt Emilio nur Verachtung entgegen und führt ihm seine ‚Minderwertigkeit’ bei jeder sich bietenden Gelegenheit vor Augen. Und auch seine Mutter leidet unter dem Druck ihres Mannes, den sie mit der Geburt eines behinderten Kindes enttäuscht zu haben glaubt, und erscheint als viel zu schwa-che Persönlichkeit, als dass sie Emilio beschützen könnte. Nachdem „der Alte“ die Familie eines Tages Hals über Kopf verlässt, rückt der väterliche Freund Javier mehr und mehr in den Mittelpunkt von Emilios Leben. Mit ihm erlebt der Junge ein Stück unbeschwerter Kindheit und erhält die Achtung und Zuneigung, die ihm seine Eltern nicht geben können oder wollen.
Als seine Eltern ein zweites Kind bekommen und die ganze Familie vor Freude weint – Laura kann hören –, beginnt Emilio nach eigenen Erklärungen und Lösungen für sein ‚Problem’ zu suchen: „Mütter sollten ihre Kinder besser abends aus ihrem Bauch kommen lassen, so um neun Uhr. Dann haben sie ein Baby, das hören und sprechen kann. Dann weinen die Men-schen auch vor Freude. Wenn du geboren wirst und die Leute weinen, dann hast du es gut getroffen.“ In der kindlichen Annahme, dass seine Ohren nur verstopft seien, versucht er diese mit zwei Stöcken zu durchbohren. „Ich freute mich, denn sobald all das Blut aus meinen Ohren verschwunden war, würde ich hören können.“ In der dörflichen Enge der spanischen Provinz gibt es kein Verständnis für Emilio. Er kommt zur Kinderpsychologin Señora Anna in die Stadt, der es gelingt, einen Zugang zu Emilios Gedanken zu finden. Sie unterstützt ihn dabei, seinen Platz in der Welt zu entdecken und eröffnet ihm neue Wege, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
Der belgische Autor Jeroen van Haele ermöglicht es in seinem Debütwerk „Die stille See“ durch einfache, klare Sätze schon jungen Lesern, in die stille Welt des Ich-Erzählers Emilio einzutauchen. Einzutauchen in die Vorstellungen, die er sich über seine Umwelt, seine Gehörlosigkeit und nicht zuletzt über seine Freundschaft zu Javier macht. Obwohl diese Gedanken zunächst sehr komplex für einen 11-jährigen Jungen wirken, gelingt es dem Autor durch eine altersadäquate Sprache, die Authentizität des Protagonisten zu wahren.
Seine beiden Bezugspersonen, Señora Anna und Javier, holen Emilio aus seiner Einsamkeit heraus und füllen seine stille Welt. Mit ihnen findet Emilio einen neuen Weg der Kommunikation. Javier versucht Emilio alltägliche Geräusche seiner Umgebung, wie das Meeresrauschen, zu beschreiben. Denn auch ohne gesprochene Sprache bleibt ihre Beziehung nicht ‚stumm’. So gewinnt das Meer eine ganz besondere Bedeutung für Emilio. Es steht für die Bewegung, die Unbeschwertheit und das ‚Hören’, das Javier in sein Leben gebracht hat. Als der alte Mann eines Tages einen Schlaganfall erleidet und kurz darauf stirbt, bleibt die See für Emilio zunächst wieder still. Ohne ihn kann er das Meeresrauschen nicht mehr hören und muss seine Rolle im Leben und in der Welt neu entdecken. Als ihm das gelingt, findet der Junge – unterstützt von Señora Anna – sogar einen Weg zu sprechen: Señora Anna „wusste, dass Javier, obwohl er tot war, noch mit mir sprach. Ich dachte an Javier und sagte ‚Aaa. Ooo.’ Javier Vasquez wollte, dass ich sprach.“
Die sanften Bilder der Illustratorin Sabien Clement strahlen viel Sensibilität aus und unterstreichen so den Charakter der Geschichte. In Zeichnungen, Vignetten und Ornamenten hat sie zahlreiche Menschen und Gegenstände aus Emilios Welt mit Bleistift zu Papier gebracht. Der Text nimmt vergleichsweise wenig Platz ein, so dass man meint, zwischen den sparsam gedruckten Zeilen die Leere in Emilios Ohren wieder zu finden.
Van Haele greift das schwierige Thema Behinderung auf, vermittelt es auf eine für Kinder verständliche, unsentimentale Weise und verdeutlicht, dass die gesprochene Sprache nur eine Art der Kommunikation ausmacht.