Sax, Aline: Eine Welt dazwischen
Von anderen Ufern
von Dominik Markert (2007)
„Alle Geschichten, die wir kennen, enden mit dem Aufbruch nach Amerika. Meine beginnt damit.“
Westflandern um 1900: Wie so viele zur damaligen Zeit will auch die Familie des 16-jährigen Adrian der ländlichen Armut Belgiens entkommen und ein neues Leben in Amerika beginnen. Haus und Hof für die Überfahrt nach New York verkauft, macht sich die Familie auf den Weg ins neue Leben. Mit dabei: das Ehepaar de Belder, Tochter Charlotte und die sich blind verstehenden Zwillingsbrüder Adrian und Alexander. Während Alexander von einem fruchtbaren Stück Land träumt, ist für Adrian die Zukunft nicht mehr als ein schwarzes Loch. Der Sprache nicht mächtig, kaum Geld in der Tasche, das ganze Leben in ein paar Koffer oder Bündel gepackt und „nicht mehr als eine Nummer unter Millionen zu sein“ - all das nährt Adrians Zweifel. Und er soll Recht behalten …
Eine letzte Nacht voller Hoffen und Bangen bleibt der Familie zusammen in Antwerpen, bevor sich ihre Wege trennen. Aufgrund einer Lungenentzündung wird der Tochter bereits das Betreten des Schiffes verweigert. Binnen Sekunden wird klar: Mutter und Tochter müssen zurückgelassen werden, und nur der Vater und die Söhne machen sich auf in die ‘neue Welt’. Doch damit nicht genug. Bevor die Drei überhaupt einen Fuß nach New York setzen können, beginnt auf Ellis Island ein wahrer Untersuchungsmarathon. Noch bevor die beiden Brüder trotz allem „America, here we come!“, ihren einzigen englischen Satz, richtig aussprechen können, werden der Vater krankheitsbedingt und der Bruder wegen angeblich anarchistischen und aggressiven Verhaltens ausgewiesen.
Das erste Mal von seiner Familie und auch von seinem Zwillingsbruder getrennt, entdeckt nun der Ich-Erzähler, Adrian, New York und dabei auch sich selbst. Schleichend, anfangs kaum zu bemerken, vollzieht sich nun der Wandel von einer beispielhaften Auswanderergeschichte hin zu einem außergewöhnlichen Adoleszenzroman. All das verpackt die junge flämische Autorin geschickt in einen Brief Adrians an seinen Zwillingsbruder Alexander, in welchem er versucht, die Geschichte von ‘seinem’ Amerika zu erzählen.
Ohne Zeit sich zu verabschieden, ohne Zeit für Trauer oder zum Nachdenken wird Adrian, das erste Mal in seinem Leben völlig auf sich alleine gestellt, von New York förmlich verschluckt. Verbringt er seine erste Nacht noch im Central Park, so hat er schon am zweiten Tag einen Job als - wie sollte es auch anders sein - Tellerwäscher und einen Schlafplatz in einem heruntergekommenen Hotel. Passend zur hektischen und geschäftigen ’Big Apple’ - Atmosphäre, überschlagen sich nun die Ereignisse, und ehe sich Adrian versieht, verblassen auch schon die Erinnerungen an die Familie, lernt er ganz nebenbei Englisch, schließt erste Freundschaften, verliert den Job als Tellerwäscher und steht plötzlich auf der Straße.
Wie soll es weitergehen? Ohne Job und Schlafplatz, kaum Geld für die nächsten zwei Tage in der Tasche, erinnert sich Adrian an den Hoteljungen, den er kurz nach seiner Ankunft getroffen hatte. Spontan hatte sich Adrian diesem Unbekannten anvertrauen können, und fand er zu diesem Zeitpunkt dessen Übernachtungsangebot noch recht merkwürdig, so scheint es ihm jetzt die einzige Lösung seiner Probleme zu sein. “97 Orchard Street“, schießt es ihm durch den Kopf, und noch am selben Abend verbringt er seine erste Nacht bei Jack. Jack, der so anders ist, der ihn aufnimmt, ohne etwas dafür zu verlangen, der eine eigene Wohnung, ja sogar ein Grammofon besitzt, der ihn behandelt, als würden sie sich schon ewig kennen, und der so viele zwielichtige Seiten hat, die Adrian erst nach und nach kennenlernt. Mit Jack beginnt Adrians neues Leben in New York, und mit ihm beginnt Adrian auch wieder zu träumen, z. B. von Fahrkarten für die ganze Familie, dem erhofften Stück Land – und von Jack. Von Jack?
Nach und nach entdeckt Adrian seine Liebe zu Jack, mit allen Höhen und Tiefen, die Homosexualität zur damaligen Zeit mit sich brachte. Anfeindungen und Repression gehören genauso dazu wie die speziellen Etablissements, in die Adrian von Jack eingeführt wird und in der beide sich geben können, wie sie sind. Eindringlich wird der Reiz der Szenewelt für Adrian beschrieben; dem Leser wird die Subkultur der Homosexuellen als fremd und verstörend, aber auch als durch und durch sympathisch vorgeführt. Eine wunderbare Großstadtliebe zwischen „hair up“ und „hair down“, zwischen Poesie und Sweatshop.
Mit viel Gefühl, und ohne dabei in Kitsch abzugleiten, erzählt die junge Autorin Aline Sax die Geschichte zweier Homosexueller in New York. Doch „Eine Welt dazwischen“ ist mehr als nur diese Geschichte, zugleich gibt sie ein Abbild New Yorks um 1910, der Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten, dem Traum so vieler Emigranten. Aber insbesondere ist es die Geschichte Adrians. Adrian, dem es zu keinem Zeitpunkt der Erzählung leicht gemacht wird. Steht er anfangs noch zwischen der alten und der neuen Welt, steht er am Ende zwischen Jack und Alexander. Eben immer in seiner Welt dazwischen. Doch es wäre für diesen Roman zu einfach, würde Adrian nicht vor die Wahl gestellt.
In einem Satz: Vielschichtig, tiefgründig, mit einem Hauch Poesie ist „Eine Welt dazwischen“ nicht nur eines der besten historischen Jugendbücher 2007, sondern erzählt auch auf außergewöhnliche Weise eine ganz besondere Liebesgeschichte.