Banyai, Istvan: ein Blick zwei Blicke
Die andere Seite
von Felix Giesa (2007)
„Luke, auch du wirst noch entdecken, dass viele Wahrheiten, an die wir uns klammern, von unserem persönlichen Standpunkt abhängig sind.“ Das dieser berühmte Ratschlag von Obi Wan Kenobi an seinen Jedi-Schüler Luke Skywalker aus dem letzten Teil der Star Wars-Reihe der Ausgangspunkt für Istvan Banyais Bilderbuch „ein blick zwei blicke“ gewesen ist, darf zwar durchaus bezweifelt werden. In der philosophischen Tragweite aber, die sowohl Banyai als auch der Jedi-Meister dem eigenen und auch dem fremden anderen Standpunkt beimessen, sind Allegorien allerdings kaum zu leugnen.
Schickte der Illustrator Banyai den Betrachter in seinem 1995 erschienenen Buch „Zoom“ auf eine interaktive Reise mit immer größer werdendem Horizont und veranschaulichte er drei Jahre später in „REM“ die surrealistischen Spielideen eines Kindes durch in Zeitlupe erscheinende Bilder, so fordert er in seinem neuesten Bilderbuch den Betrachter erneut dazu auf genau hinzuschauen. Dabei ist der deutsche Titel eine regelrechte Anleitung: jeweils auf der rechten Seite des Buches wird eine Situation aus einem Blickwinkel gezeigt. Auf der folgenden linken Seite wird die gleiche Situation aus einem anderen Winkel gezeigt.
So sieht man zum Beispiel auf einer rechten Seite einen Jungen mit seinem Hund Tennis spielen. Nach dem Umblättern erkennt man das Tennisfeld von der gegenüberliegenden Seite: jetzt spielt jedoch der Hund mit seinem Herrchen. Es ändern sich also nicht nur die Blickwinkel, sondern Banyai bezieht auch jeweils die subjektive Selbstsicht der zentral gestellten Figur mit ein. Nirgends wird dieses System besser deutlich, als in den beiden Bildern aus dem Zoo: ein kleines Mädchen besichtigt mit ihrer Katze den Tigerkäfig. Die „andere Seite“ offenbart den Wunsch der Großkatze. Sie hat sich befreit und besichtigt nun ihrerseits das eingesperrte Hauskätzchen.
Graphisch bedient sich Banyai seinem bewährten Stil. Dabei erinnern die am Computer gestalteten Zeichnungen von ihrer reduzierten Erscheinung an die von dem Belgier Hergè begründete Ligne Claire. Der Hintergrund wird fast immer Weiß belassen und nicht weiter ausgefüllt. Es wird so zum einem eine Überladung der Bilder vermieden und zum anderen kann so der Betrachterblick, auf den es ja ankommt, genau gelenkt werden. Dieses Unterfangen wird zusätzlich noch durch die strenge Verwendung der Zentralperspektive unterstützt, die den Blick kaum abweichen lässt. Farblich „spielt“ sich alles in Schwarz, Weiß und Grau ab. Lediglich einige gelbe und rote Farben setzen Akzente, durch die das personelle Inventar hervorgehoben wird.
Das weiterhin Besondere ist jedoch, das der Illustrator die einzelnen Bildpaare nicht einfach nur aneinanderreiht, sondern assoziativ miteinander verknüpft. So beginnt die Geschichte auch nicht, wie man erwarten könnte, auf einer rechten Seite. Sondern auf der ersten linken Seite des Buches befindet sich eine Anleitung zum Bau eines Papierfliegers. Dieser fliegt im nächsten Bild am Fenster eines kleinen Mädchens vorbei. Geworfen wurde er von dem kleinen Jungen auf der nächsten Seite. Der aus dem Fenster schauende Junge findet sich nun im folgenden Bildpaar aus einem Flugzeug schauend. Beim Spielen überschlagen sich die Vorstellungen häufig und so ist aus dem Papierflieger ein echter Flieger geworden. Die Verknüpfung der Bildpaare geschieht allerdings nur lose. Im Fall der Gehegestangen des Tigers „entstanden“ diese zum Beispiel aus den aufgereihten Bäumen eines Waldes.
Gegliedert hat Banyai die Bildpaare zusätzlich nach den Schemata „Drama“ und „Komödie“. Das jeweils rechte Bild besticht durch eine gewisse Dramatik, wohingegen die zweiten Bilder meist komisch anmuten. Damit dies auch jeder erkennt, hat er im gezeigten Bildpaar die genaue Einteilung auf die Litfasssäule geschrieben. Wo er dabei selber steht, erkennt derjenige, dessen Blick bereits geschult ist: der kleine Clown trägt einen Koffer mit dem Aufdruck „Isti“ mit sich herum. Wer anders, als Istvan Banyai selber dürfte das sein? In dieser augenzwinkernden Selbstinszenierung erkennt man die Brillanz dieses Bilderbuches. Es fordert dazu auf, neben dem eigenen Blick auch andere Blicke empathisch zu erfassen und vor allem auch zuzulassen. Das es dabei nicht nur ernst, wie in der aktuellen Diskussion um das „Andere“ zugehen muss, sondern durchaus auch spaßig, dass führt der Illustrator hier trefflich vor.