Janisch, Heinz (Text) und Artem (Illustration): Schatten
Schattentheater
von Anika Knott und Felix Giesa (2007)
An heißen Sommernachmittagen, wenn die Schatten immer länger werden, ist es ein Leichtes, die Grenzen zwischen Phantasie und Wirklichkeit verschwimmen zu lassen. Ähnliches geschieht auch in dem Bilderbuch „Schatten“ von Heinz Janisch und Artem. Auf einem Spaziergang durch die Stadt blickt der kleine Sven über die Grenzen der Realität hinaus, und so gelingt es ihm, die surrealen Momente der Phantasie auszuloten. Mit traumdeuterischem Gespür erkennt er in den Schatten seiner Umwelt Erstaunliches: Während die Stadt im sommerlichen Schlummer liegt, erwachen die Schatten zum Leben …
So auch die Schatten der im Liegestuhl Siesta haltenden Eltern: Munter kicken sie einen Ball umher. Auf seinem Streifzug durch die dösende Stadt begegnet Sven einem schlafenden Mann, dessen Körperschatten so frei an einer Mauer entlanggleitet wie ein vorbeifliegender Vogel. Später flitzt ein verträumtes Mädchen auf einem Fahrrad an ihm vorüber. Der dunkle Schein des Mädchens zeigt sich hingegen in einem vollkommen anderen Bild: Wie die tollkühne Pilotin eines Rotorflugzeugs braust sie davon. Svens Lieblingsplatz, der Leuchtturm, dagegen formt sich im Spiel der Schatten zu einer abenteuerlichen Achterbahn.
Diese lustige und eigenartige Welt der Schatten lässt sich jedoch nicht in Heinz Janischs knappem Text entdecken. Dieser schildert nur die vordergründige Realität, welche sich in den freundlichen und warmen Bildern von Artem (d. i. Artem Kostyukevich) im Gegenständlichen wiederfindet. Zurückzuführen ist diese Text- Bild-Diskrepanz unter anderem auch auf die besondere Entstehung des Bilderbuches: Es ging als erster Preis aus einem Wettbewerb der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg und des Bajazzo Verlages hervor. Die Aufgabe der Studenten war es, zu Janischs Text Illustrationsvorschläge zu entwerfen.
Das Besondere an Artems Bildern ist, dass sich in den dunklen Spiegelungen eine zweite Handlungsebene offenbart. Hier sind diese selber die Protagonisten. Zwischen ihrem „bunten“ Treiben und dem träumerischen Nichtstun der Personen entsteht ein überraschendes Spannungsverhältnis, welches die komischen Widersprüche zwischen den schwarz-braunen Schatten und der farbigen Wirklichkeit ermöglicht. Sven erweckt die Schatten in seiner kindlichen Wahrnehmung zum Leben und lässt die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit verschwimmen. Er kann sie nicht nur passiv betrachten, sondern auch aktiv an dem phantastischen Geschehen teilnehmen. Zu Beginn und am Ende des Buches erscheint Svens Schatten als ein Zirkusaffe, der einmal als Schiedsrichter das elterliche Freundschaftsspiel pfeift und zum Abschluss der Handlung von Sven ins Haus gebeten wird. Auf seinem Spaziergang hingegen ist Svens eigentlicher Schatten sichtbar. Dieses Doppelgängermotiv der Romantik verstärkt die Irritation des Lesers und die Situation der Figuren, die zwischen Imagination und Realität unschlüssig sind.
Auf der Bildebene gelingt es dem Maler, eine sommerliche Atmosphäre zu schaffen, die beim Betrachter Erinnerungen an heiße Nachmittage im späten August weckt. Die überwiegend gebrochene gelb-braune und grüne Farbgebung strahlt eine Wärme aus, die den Leser regelrecht ins Schwitzen bringt. Während Schatten in der Mythologie häufig das Böse und Gruselige symbolisieren, gelingt es Artem in der Darstellung der Schatten, diese zu entmystifizieren. Sie erscheinen nicht als schwarze einheitliche Fläche, es ist vielmehr ein bewegter Pinselduktus zu erkennen. In Brauntönen gestaltet vermitteln sie eine schimmernde, beinahe warme Erscheinung. Die Rolle Svens als Urheber des schattigen Treibens wird dadurch stärker hervorgehoben, dass er ein sonnengelbes T-Shirt trägt. Ebenso sind bereits die roten Haare ein Verweis auf den schalkhaften Charakter des Kindes.
Einziges kleines Manko dieses erfreulichen Bilderbuches ist die Schrift. Diese wurde maschinengesetzt in die Bilder eingefügt. Ein Handlettering hätte den graphischen Gesamteindruck noch besser betont. Ansonsten ist Heinz Janisch und Artem mit „Schatten“ eine wunderbare Hommage an die kindliche Phantasie gelungen. Die teilweise surreal anmutenden Illustrationen transportieren auf perfekte Weise die Unsicherheit des Betrachters, ob es sich um Traum oder Wirklichkeit handelt. Ganz so, wie wenn an heißen Sommertagen der Horizont zu flimmern beginnt.