Geus, Mireille: Big
Gefährliche Freundschaften
von Kristin Pietsch und Moritz Jansen (2007)
„Ich habe ein schreckliches Jahr hinter mir, und diese Geschichte erzählt von diesem schrecklichen Jahr. Das heißt, von dessen Anfang. Eigentlich nur von dessen Anfang.“
Diese Geschichte wird von Lizzy erzählt, einem Mädchen, das lieber den anderen Kindern beim Ballspielen zuschaut, als selbst mitzumachen. Den Ball zu fangen, fällt ihr schwer. Ihre Mutter sagt, sie sei „ein bisschen anders“, womit sie wohl mehr Recht hat als die anderen Kinder – die sagen nämlich, Lizzy sei „bekloppt“. Wenn Lizzy an ihrem Lieblingsplatz an der Laterne steht und das Treiben um sich herum beobachtet, scheint sie alles andere zu vergessen. Das Zusehen wirkt beruhigend auf sie, da kommt wenig Hektik auf. Sobald sich das Leben um sie herum beschleunigt, geraten ihre Welt und sie selbst ins Wanken. Daher hat sie auch ihren Spitznamen: Dizzy. Aber im Grunde ist Lizzy mit ihrem Leben zufrieden. Sie wird unterstützt von ihrer Mutter und ihren Lehrern, die sich sehr um sie bemühen und ihr Rückhalt bieten. Von ihnen lernt Lizzy, dass sie den Dingen ins Auge sehen muss, auch wenn ihr etwas nicht gefällt. „Ich muss dann laut sagen, was mich ärgert […]. Und dann muss ich noch sagen: ‚Punkt.’ Also: ‚Ich traue mich nicht zu sagen, dass ich keine Zeit habe. Punkt.’ So.“
Als eines Tages ein Mädchen im Ort auftaucht, das schon auf den ersten Blick so ganz anders ist als Lizzy, verändert sich ihr Leben schlagartig. Abigail, genannt Big, trägt ihren Spitznamen zu Recht. Sie ist groß, unnachgiebig und nimmt andere Menschen, egal ob Kind oder Erwachsener, rücksichtslos für sich ein. Und ausgerechnet dieses dicke Mädchen mit den blonden Locken möchte Lizzys Freundin sein. Big sagt von nun an, wo’s langgeht – sie bestimmt, wann und wo sich die Mädchen treffen, worüber sie sprechen und was sie unternehmen. Schließlich fasst sie den Plan, sich an den Jungen, die Lizzy immer gehänselt haben, zu rächen. Lizzy ist davon zwar nicht begeistert, lässt sich jedoch von Big mitreißen, da sie ihre neue und einzige Freundin nicht enttäuschen möchte. Was Big wirklich im Schilde führt und mit welch katastrophalen Konsequenzen der vermeintliche Streich endet, erkennt sie nicht.
Auf außergewöhnliche Weise lässt Mireille Geus Lizzy ihre Geschichte erzählen. Der Leser erhält einen Einblick in die Gedankenwelt eines jungen Menschen, der in seiner ganz eigenen Welt lebt – er nimmt Teil an Lizzys Vorstellungen, Gefühlen und Ängsten, die sie ihrer Umwelt sonst oft nicht begreifbar machen kann. So erkennt man den inneren Konflikt des Mädchens, welches sich hin und her gerissen fühlt zwischen ihrer ‚Freundschaft’ zu Big und ihrem Wunsch nach Selbstbestimmung. Lizzy unterstützt das Verhalten von Big nicht ohne Vorbehalte oder schlechtes Gewissen, sie schafft es aber nicht, sich von ihr zu distanzieren.
Lizzy erzählt ihre Geschichte rückblickend aus verschiedenen Perspektiven. So weiß der Leser von Anfang an, dass die ‚Freundschaft’ zwischen Lizzy und Big scheitern wird und erlebt mit Schaudern die hässlichen Seiten einer Kindheit. Es baut sich eine ungeheure Spannung auf und man möchte immer dringlicher wissen, warum sich niemand dem nahenden Unheil entgegenstellt. Der Leser erlebt alles aus der Perspektive Lizzys, was zugegebenermaßen manchmal etwas mühselig ist – besonders zum Ende hin möchte man am liebsten aufspringen, Lizzy ordentlich rütteln und sie zum Handeln zwingen. Doch Lizzys Phantasiereisen, ihre Abschweifungen und Ausflüchte machen den Charme des Buches aus und eröffnen dem Leser eine andere Sicht auf die Welt, wie sie selten von jugendlichen Protagonisten eines Romans gelebt wird.
Am Ende verschafft Lizzy sich dann doch noch Gehör und emanzipiert sich zu einem gewissen Grad. Dazu gehört auch, die Augen nicht vor der Realität zu verschließen.