Dölling, Beate: Alles bestens
On the run
von Moana Schmid und Marianna Tsilomanidis (2007)
Eines ist sicher: Den Haustürschlüssel zu vergessen, lässt jedermanns Puls um ein Vielfaches steigen. Hat man nicht gerade einen Ersatzschlüssel unter der Fußmatte oder in weiser Voraussicht bei den netten Nachbarn gebunkert, steht man ziemlich blöd da. Aber so richtig unentspannt wird es, wenn man dann auch noch halbnackt vor verschlossener Türe steht und außer einer Zigarette im Mund nur noch grüne Boxershorts vorzuweisen hat. Vor allem wenn man erst 16 ist und die Eltern frühestens in ein paar Tagen zurückkehren ...
Dieses Szenario ist erst der Beginn einer rasanten Tour durch Berlin. Humorvoll und mit einer Prise jugendlicher Schnoddrigkeit erzählt Beate Dölling in ihrem Roman „Alles bestens“ die Geschichte eines Jugendlichen, der aus Versehen ‚obdachlos’ wird und sich daraufhin mit einer großen Portion Abenteuerlust aufmacht, sein Glück zu finden.
Mit seinen 16 Jahren fühlt sich Johannes eingeengt in dem spießigen Vorort mit seinen adretten Reihenhäusern im gutbürgerlichen Viertel Berlins, wo er mit seinen Eltern lebt. „Zehlendorf ist nicht Deutschland ...“, es ist vielmehr ein Paradies für Ruhesuchende und Besserverdiener. Diese Scheinwelt langweilt den Heranwachsenden und hält ihn fern vom ‚puren’ Leben. „In Zehlendorf ist immer tote Hose, wenn nicht gerade Berufsverkehr ist.“ Als Johannes eines Tages ohne Geld und Kleidung vor der elterlichen Villa steht, nimmt er die Chance wahr, endlich aus dieser Welt auszubrechen. Ohne Ziel begibt er sich drei Tage lang auf eine surreale, aber emotionale Reise quer durch Berlin. Er wird geküsst und verlassen, verliert seine Unschuld und seinen Glauben, dröhnt sich zu und sieht plötzlich klarer als jemals zuvor.
Aber nicht nur die Begegnungen mit Fremden berühren und verändern ihn. Es sind vor allem die intensiven Erlebnisse, die ihn an seine Grenzen bringen, ihn berauschen, aber auch ängstigen: So beobachtet er seinen Vater, den er weit weg auf einer Tagung vermutet, bei einem heimlichen Rendezvous mit dessen junger Angestellten. Das Gefühl, betrogen zu werden lähmt den Teenager und schockiert ihn gleichermaßen. Das heile Bild seiner Familie bekommt Risse, und er erkennt, dass auch eine scheinbar intakte Familie, die sonst für jede Art von Problemen eine politisch korrekte Lösung parat hält, nicht vor Fehlern gefeit ist. Besonders nicht vor menschlichen. „Kein Zuhause ist frei von Keimen, auch wenn es sauber aussieht, es sind immer noch Keime vorhanden ...“ Letztendlich sind es aber genau diese Erfahrungen, die ihn stark und selbstbewusst machen. Wie eine Seifenblase zerplatzt schließlich das angenehme, aber langweilige Leben seiner Kindheit und macht endlich Platz für seine ganz eigenen Träume und Hoffnungen.
Beate Dölling versteht es, sich in die komplizierte Gefühlswelt eines Jugendlichen einzufühlen. Ohne Berührungsängste bedient sich die Autorin der Sprache der Jugend und erzeugt mit diesem Stilmittel eine authentische Wirkung. Geschickt unterstützt sie diesen Effekt mit Hilfe von Literaturhinweisen und Medienbegriffen aus der Lebenswirklichkeit der Jugendlichen.
Angelehnt an dem Romanklassiker „Der Fänger im Roggen“ von J.D. Salinger schafft Beate Dölling offensichtliche und gewollte Parallelen zwischen ihrem Berliner Helden Johannes und dem New Yorker Ausreißer Holden Caulfield. Johannes, der sich zeitweise Holden nennt, sieht in ihm einen ,Bruder im Geiste’. Auch der wahre Holden reißt aus der bürgerlichen Enge aus und durchlebt drei groteske Tage voller Leidenschaft und Ängste. Anders als dieser zerbricht Johannes jedoch nicht an den inneren Konflikten: „Ich wollte alles behalten, auch meine Macken! Man verliert schon so viel im Leben - die Kindheit, die Eltern, letztendlich sogar das Leben selbst. Da kann man doch seine Macken nicht noch gratis an irgend so einen Psy abgeben.“
J. D. Salingers feines Gespür für die Sprache der jungen Generation zeichnete vor über fünfzig Jahren seinen Erfolgsroman aus und machte ihn damit weltberühmt. Ob Beate Dölling mit ihrem Roman der Versuch einer deutschen Neuauflage gelungen ist, sei dahingestellt. Aber mit Gewissheit kann man behaupten,dass sie es geschafft hat, den Ton der heutigen Jugend zu treffen und deren Sichtweisen und Lebensgefühl auf eine ungekünstelte, manchmal großmäulige, aber vor allem liebenswerte Art und Weise zu beschreiben.