Dowd, Siobhan: Ein reiner Schrei
Wo Schatten ist, da ist auch Licht
von Sonja Behrendt und Vanessa Zelissen (2007)
Südirland, 1984: Wie ein roter Faden ziehen sich die Schicksalsschläge durch das Leben der 15-jährigen Shell. Mit dem Tod ihrer Mutter verliert sie nicht nur ihre Kindheit, sondern auch den Glauben an Gott. Ihr verzweifelter Vater dagegen verliert seine Arbeit, flüchtet sich in Alkoholexzesse und religiösen Fanatismus. Seine Kinder quält er mit langen Gebeten und sinnlosen Aufgaben. Da er der Familie immer mehr den Rücken kehrt und als Vater komplett versagt, muss Shell für ihre jüngeren Geschwister sorgen und sich um den Haushalt kümmern.
Durch den jungen, idealistischen Pater Rose findet Shell wieder zu ihrem Glauben zurück. Er ist bemüht, dem Mädchen zu helfen, was jedoch bald durch den Klatsch und Tratsch der streng katholischen Dorfgemeinschaft, die einen Skandal wittert, verhindert wird. Von dem Dorfcasanova Declan lässt sich die naive, sexuell unaufgeklärte Shell zu einer Affäre überreden. Nach einiger Zeit verschwindet er ohne sie nach Amerika. Erst spät realisiert Shell ihre Schwangerschaft und ‚verheimlicht’ diese ihrem Vater. Auch die Dorfbewohner scheinen die Veränderungen an ihr bewusst zu ignorieren. Mit Hilfe ihrer Geschwister und eines gestohlenen Körperbuchs, aus dem Shell ihr bescheidenes Wissen über Schwangerschaft und Geburt bezieht, bringt sie in einer ergreifend geschilderten Geburtsszene ihr Kind auf dem Küchenfußboden zur Welt. Kurz darauf wird die Leiche eines ausgesetzten Neugeborenen gefunden ...
Als Schauplatz der Handlung hat die irische Autorin Siobhan Dowd ein ärmliches Dorf im Irland der 1980er-Jahre gewählt. Religiösität ist in diesem konservativen Land von großer Bedeutung. So verwundert es auch kaum, dass kirchliche Feiertage die Handlung strukturieren: Die Geschichte beginnt kurz vor Palmsonntag, Declan verführt Shell an Ostersonntag, und einen Tag vor Weihnachten bekommt sie ihr Kind. Es regnet viel, der Himmel ist meist grau verhangen, und die Einwohner scheinen von ihrem Leben enttäuscht zu sein. Dowd wählt die Tristesse des Alltags als Kulisse und baut in ihrem Roman eine beklemmende Grundstimmung auf.
Die Autorin schildert in ihrem Debütroman „Ein reiner Schrei“ aus Shells Sicht die Geschichte eines jungen Mädchens, das um seine Mutter trauert und sich mit dem Erwachen seiner Sexualität und einer ungewollten Schwangerschaft konfrontiert sieht. Trotz unzähliger Hürden und Verluste in ihrem Leben wirkt die Protagonistin nicht mutlos. Hoffnung schöpft sie aus ihren kindlich religiösen ‚Visionen’ und den intensiven Erinnerungen an ihre Mutter. Shell wird nicht als perfekte Heldin dargestellt, sondern als ein Mädchen mit Schwächen und Makeln: Der Haushalt und die Erziehung ihrer Geschwister wachsen ihr oftmals über den Kopf, und ihr (Liebes-)Leben läuft ihr immer wieder aus dem Ruder.
Auch wenn den Leser die ausweglose Situation des Mädchens beklemmt, hält die Autorin immer wieder kleinere Anekdoten für ihn bereit. Sie beschreibt darin Shells naiv-kindliche Sichtweise und die sympathisch wirkende Unbedarftheit, mit der sie die Dinge angeht, mit einer gesunden Portion Zynismus. So glaubt Shell tatsächlich, mit einem langen Pullover und einem Mantel ihres Vaters die Anzeichen einer Schwangerschaft vor ihrer Umwelt verstecken zu können. Alle, sogar ihr Vater, verhalten sich, als würden ihnen die Veränderungen an Shells Körper nicht auffallen, schauen weg und lassen das Mädchen feige im Stich.
Als die Katastrophe ihren Lauf nimmt, zeigen die Mitglieder der Dorfgemeinschaft scheinheilig mit dem Finger auf die ‚Kindsmörderin’, ohne das eigene Verhalten zu hinterfragen. Nur Pater Rose und die Freundin ihrer Mutter halten zeitweise zu Shell und nehmen sich ihrer an. Die Autorin übt Kritik an einer Gesellschaft, die ihre Spießigkeit und Bigotterie über die Werte der Nächstenliebe und Fürsorge stellt: Während die Menschen demütig zur Messe gehen und beten, zeugen ihre Handlungen kaum von Christlichkeit und Nächstenliebe. Schonungslos führt Dowd dem Leser vor Augen, wie eng Moral und Doppelmoral beieinander liegen. So sammelt Shells Vater „gierig wie eine Blut saugende Mücke“ Spendengelder, hält aber einen großen Teil davon für sich zurück. Pater Rose, der Shell wie Christus erscheint, verliert selbst sein Vertrauen in die katholische Kirche, als Shells Situation ignoriert wird und die Kirche bei der Aufgabe, ihr zu helfen, kläglich versagt.
Siobhan Dowd ist es gelungen, ein Jugendbuch von großer Eindruckskraft zu schreiben, welches man nicht mehr aus der Hand legen mag. Mit kühlen, schlichten Worten, die fast von der Hauptfigur selbst stammen könnten, schildert sie detailreich und brutal die frustrierende Realität, die das Leben für Shell bereithält. Doch obwohl Shell meist die Schattenseiten des Lebens zu spüren bekommt, vermittelt Dowd eindrücklich, dass das Leben lebenswert ist und sich immer wieder ein Funken Hoffnung finden lässt: „Welche Lust, zu leben, welche Lust!“