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Titelbild
Jalonen, Riitta und Kristiina Louhi (Illust.):
Das Mädchen unter dem Dohlenbaum
Aus dem Finnischen von Anu Pyykönen-Stohner
München: Hanser 2007
48 S.
€ 14, 90
Kinderbuch ab 7 J.

Jalonen, Riitta (Text) und Kristiina Louhi (Illustration: Das Mädchen unter dem Dohlenbaum

Abschiedsgruß gen Himmel

von Maria Kristina Rösner (2007)

Man wird nicht gefragt, wann es einem recht ist Abschied zu nehmen. Dann ist er plötzlich da: der Schmerz des Verlustes, und es heißt ihn anzunehmen und auszuhalten. Das kleine Mädchen, dessen Vater gestorben ist, spürt ihn überall, doch „niemand kann die Stelle sehen, wo es am meisten wehtut, wenn man jemanden vermisst.“ Bei diesem ‚Abschied für immer’ ist die Erinnerung das Einzige, was bleibt.

In „Das Mädchen unter dem Dohlenbaum“ geht die finnische Autorin Riitta Jalonen gemeinsam mit der Illustratorin Kristiina Louhi behutsam den kindlichen Gedanken zum Thema Tod nach: An einem kühlen Herbsttag brechen Mutter und Tochter auf, um an einem anderen Ort eine Wohnung, Arbeit und ein neues Zuhause zu finden. Doch bevor die beiden in den Zug steigen, entdeckt das kleine Mädchen am Bahnhof die großen Bäume mit den Dohlen. Einem „rostigen Dohlenbaum“ scheint sich das Mädchen viel eher anvertrauen zu können als einem Menschen. Die vielen Fragen, die es ihm stellt, bleiben aber unbeantwortet. Doch von dort aus sendet sie einen Abschiedsgruß an ihren Vater, der ihr plötzlich ganz nah zu sein scheint: „In dem Baum schlägt ein Herz und mein Vater kann es bis zum Himmel hören. Er sagt den Dohlen, dass sie zum Bahnhof zurückfliegen müssen, weil dort ein Mädchen und die Bäume auf sie warten.“

Auf kindlich-naive Art und Weise erzählt die Kleine von ihrer Trauer und macht gedankliche Sprünge zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Durch die aufmerksame Beobachtung ihrer Umgebung, den Baum mit den schreienden Vögeln, bekommt sie immer wieder Impulse und die Gelegenheit sich zu erinnern: Daran, wie es war, wenn ihr Vater gesungen hat und alle Erwachsenen zuerst zugehört und später mitgesungen haben. Für die Kinder gab es dann keine Schlafenszeit mehr. Sie kletterten auf die Uferfelsen, legten sich auf den Rücken und redeten über die Wolken. Sie erinnert sich aber auch an das unmittelbar Geschehene, an die Momente nach dem Tod ihres Vaters, in denen sie glaubte ihn irgendwo gesehen zu haben ...

Die Beschreibungen ihrer Umgebung, ihrer Erinnerungen und Gefühle fließen ineinander und gewähren dem Leser tiefe Einblicke in die Emotionen des Mädchens. Riitta Jalonen verwendet dafür eine klare Sprache, die mit sinnbildlich-poetischen Wendungen durchmischt ist. Die anachronische Erzählweise ermöglicht ein Wechselspiel zwischen Trauer und Zuversicht.

Kristiina Louhi nimmt diesen Kontrast in ihren fast doppelseitigen Wachs- und Kreidezeichnungen auf. Ihr Ausdrucksmittel ist die Farbe. Die Bahnhofsumgebung erscheint in natürlichen Herbsttönen, aus denen das Mädchen mit seinem türkisfarbem Mantel und rötlichem Haar bunt hervorsticht. Auf anderen Illustrationen überwiegen Blautöne. In Verbindung mit den schwarz-weiß gezeichneten Dohlen wirken diese dunkel und bedrohlich, bei Darstellungen des Himmels und des Meeres weich und hell. Der weite, oft flächig gehaltene Hintergrund unterstreicht das Gefühl der inneren Leere. Louhi schafft mit Hilfe der verschiedensten farblichen Abstufungen und Kompositionen besondere Stimmungen, die das ‚Auf und Ab’ der Gefühle widerspiegeln und die das Trauern aus verschiedenen Perspektiven zeigen. Inhaltlich greift Kristiina Louhi in ihren Bildern einzelne Aspekte des Textes auf, versucht aber immer auch ein wenig zwischen den Zeilen zu lesen und neue Verknüpfungen zu schaffen.

Riitta Jalonen und Kristiina Louhi finden Worte und Bilder für die schwere Zeit nach dem Tod eines geliebten Menschen. Dabei erheben sie nicht den Anspruch, alle Fragen beantworten zu können, sondern lassen viel Raum für die verschiedensten Stimmungen: Melancholische, schmerzhafte, düstere aber auch hoffnungsvolle Untertöne verdeutlichen die Gefühlsschwankungen des Mädchens. Dieser kontrastrastreiche und sensible Umgang mit Tod und Trauer macht „Das Mädchen unter dem Dohlenbaum“ zu einem besonderen Kinderbuch mit beeindruckenden Illustrationen.

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