Van Ranst, Do: Wir retten Leben, sagt mein Vater
Nirgendwo, in einer Kurve
von Ramona Rölver und Lena Steinbach (2007)
Eine Kulisse wie auf dem absurden Theater: In einer neunzig Grad scharfen Kurve, mit der kein Mensch rechnet, liegt ein Haus. Hinter dem Haus steht eine Brücke, nur halb fertig, ins Nichts führend und durch kein Warnschild gesichert. In dem Haus wohnt eine Familie. Eine drei Meter breite „Risikozone“ an der Straßenfront ist aus Sicherheitsgründen unbewohnt, denn immer wieder rasen Autofahrer in das Haus und müssen von den Bewohnern gesund gepflegt werden. Einer der Autofahrer ist geblieben: der invalide Vater der namenlosen Ich-Erzählerin.
Ein trostloser Ort für die Träume eines fünfzehnjährigen Mädchens: „Manchmal stelle ich mir vor, dass ein Auto unser Haus rammt und der Fahrer ein Junge von etwa siebzehn Jahren ist.“ Benjamin soll er heißen, Bernie oder Brad, denn Namen mit ‚B’ gefallen ihm am besten. In seinen Tagträumen pflegt das Mädchen den hübschen Verunfallten zuhause auf dem Sofa gesund, und beide finden die große Liebe.
Do van Ranst thematisiert in seinem Roman „Wir retten Leben, sagt mein Vater“ das Erwachsenwerden und die Gefühle und Zukunftsträume einer Jugendlichen in einem perspektivlosen Umfeld. Die an den Rollstuhl gefesselte Großmutter spricht seit dem mysteriösen Tod ihres Mannes nicht mehr. Der nörgelnde, ewig maulende Vater ist seit seinem Autounfall arbeitsunfähig. Die besorgte, unzufriedene Mutter plagt sich mit ihrer Ehe, die längst keine mehr ist, und ihrer Lebenssituation herum. Das Mädchen, das über die Familiengeheimnisse ebenso im Unklaren gelassen wird wie über das dubiose Treiben auf dem Brückenparkplatz, träumt immer noch von seinem Märchenprinzen... Und dann verliebt sich auch noch ihre beste Freundin Sue in die Ich-Erzählerin. Dies stürzt die Jugendliche in ein Gefühlschaos und gestaltet ihre Identitätsfindung nicht gerade einfacher. Es dauert nicht lange, bis wieder ein Autofahrer ins Haus rast. Sein Name ist allerdings Zack – ganz und gar ohne ‚B’...
Lakonisch und mit viel Humor erzählt Do van Ranst eine tragikomische Geschichte. Die 48 kurzen Kapitel erscheinen dem Leser wie skizziert, die einzelnen Szenen werden oft nur angerissen. Die Ich-Erzählerin spricht den Leser teilweise sogar direkt an, wodurch er sich unmittelbar mit ihrer Welt konfrontiert fühlt. Mit einzigartiger Unbekümmertheit erzählt sie von den eigentlich sehr tragischen Geschehnissen. Schon nach wenigen Seiten stellt sich unwillkürlich die Frage: Was ist erdacht, was ist Wirklichkeit?
Aber die stark ausgeschmückten Tagträume der Ich-Erzählerin lassen ihre Situation bei genauerem Hinsehen noch klarer erkennen. Sie bringen ihre unerfüllten Sehnsüchte zum Ausdruck, und in ihnen projiziert sie ihre heile Welt. Eine Welt mit einem Mann an ihrer Seite, den sie liebt, einem erfolgreichen Vater, der die Brücke zu Ende baut, und einem lebendigen Ort mit Touristen. Deutlich wird, wie kindhaft und naiv ihre Vorstellungen sind und dass sie gar nicht die Kraft aufbringt, die Verhältnisse aktiv zu ändern.
Der belgische Jugendbuchautor Do van Ranst gewann mit diesem Roman 2004 den ‚Knocke-Heist-Preis’ für das beste Jugendbuch. Ihm ist ein ebenso spannender wie auch origineller Roman mit viel Witz gelungen. Die entworfene Kulisse, in die er die Handlung stellt, ist bizarr. Doch innerhalb dieser Szenerie gelingt es ihm, die Gefühle des Mädchens so authentisch zu beschreiben, dass der Leser sich mehr und mehr in dessen Lage versetzen kann.