Morpurgo, Michael: Mein Bruder Charlie
Acht Stunden
von Anja Schmitt und Sabine Rüdelstein (2007)
„Seit ich hier bin, habe ich keine trockenen Füße mehr gehabt. Nass gehe ich schlafen, nass wache ich auf, und die Kälte dringt durch meine klammen Sachen bis in die schmerzenden Knochen.“ Authentisch schildert Michael Morpurgo in seinem psychologischen Jugendroman „Mein Bruder Charlie“ die Situation und die Begebenheiten während des Ersten Weltkrieges aus der Sicht des fünfzehnjährigen Thomas Peaceful.
Im Krieg wird Tommo bei einem Angriff verwundet. Um ihn zu retten, missachtet sein Bruder Charlie bewusst einen Befehl. Deswegen wird er von einem Kriegsgericht zum Tode verurteilt. Bis Charlie von einem Exekutionskommando erschossen wird, verbleiben Tommo nur acht Stunden. In dieser zeitlichen Enge resümiert er sein gesamtes Leben an der Seite seines Bruders. Das Warten auf die Hinrichtung ist in kurzen Prologen den insgesamt 13 Kapiteln vorangestellt. Den umfangreicheren Teil des Buches nehmen aber die - in der Kindheit des Erzählers beginnenden und sich der Erzählgegenwart immer weiter annähernden - Rückblicke ein. Die Überschriften, die scheinbar nur eine Uhrzeit angeben, bereiten den Leser jedoch auf ein immer näher rückendes, ihm zunächst unbekanntes Ereignis vor. Dieser Aufbau ruft eine Stimmung der Bedrücktheit und des Zeitdruckes hervor.
Aufgewachsen sind die beiden Brüder in der dörflichen Enge der englischen Provinz. Scheinbar überwinden sie alle Hindernisse, sei es der tragische Tod des Vaters, die Rivalität um das Mädchen Molly oder die ständigen Schikanen des Gutsbesitzers. Tommo kann sich stets auf den Schutz seines Bruders verlassen: „Als sein […] Bruder könnte ich das Gefühl haben, in seinem Schatten zu leben, aber ich hatte das nie, bis heute nicht. Ich lebe in seinem Licht.“
Liest man zwischen den Zeilen, so zeigt sich jedoch, dass Tommo viel mehr im Schatten seines Bruders steht, als er es sich eingestehen will. Dies zeichnet sich vor allem in den Rivalitäten der Brüder um das Mädchen Molly ab. Anfangs verband sie eine große, innige Freundschaft, doch bald empfindet Tommo mehr: „Ich [werde] sie lieben […] bis zu dem Tag, an dem ich sterbe.“ Jedoch verliebt sich auch Charlie in das Mädchen und kann Molly für sich gewinnen. Tommo ist verletzt und fühlt sich von seinem Bruder hintergangen. Er macht ihm jedoch weder Vorwürfe, noch verurteilt er ihn. Als Molly schwanger wird und, von ihrer Familie verstoßen, bei ihnen einzieht, wird für Tommo immer klarer, dass er sich aus der häuslichen Enge befreien muss: „Ich wusste nur, dass zu Hause für mich kein Platz mehr war, und dass es mir weit weg von hier besser gehen würde, insbesondere weit weg von den beiden.“
In diesem Gefühlszustand wird der fünfzehnjährige Tommo mit dem Krieg konfrontiert: „Die Arme perfekt im Takt schwingend marschierten sie an mir vorbei, mit glänzenden Knöpfen und Stiefeln, und ihre Bajonette glitzerten in der Sonne.“ Tommo ist beeindruckt und kann dem Werben des Majors kaum widerstehen: „Dein König braucht dich. Dein Land braucht dich. Und [...] dafür leg ich die Hand ins Feuer – die Mädchen lieben Soldaten.“ Der Krieg erscheint für den Jungen als plötzliche Chance. Er eröffnet die Perspektive, endlich ausbrechen zu können und alle Probleme hinter sich zu lassen. Morpurgo stellt die kriegsbegeisterte Stimmung des gesamten Umfeldes dar und kreiert eine Atmosphäre, in der er den Leser nachvollziehen lässt, warum sich Menschen gerne freiwillig für den Kriegsdienst melden. So hat auch Tommo die Vorstellung, als tapferer Soldat in einer prachtvollen Uniform in den Krieg zu ziehen, um am Ende als Held wieder heimzukehren. Die grausame Erkenntnis, dass es sich nicht um ein Spiel handelt, kommt zu spät.
Michael Morpurgo versteht es, die persönliche Entwicklungsgeschichte Tommos im Spiegel der gesellschaftlichen Ereignisse geschickt wiederzugeben. Zu jedem Zeitpunkt der Erzählung kann sich der Leser in Tommo einfühlen und nachvollziehen, wie es ist, im Krieg zu sein. Morpurgo regt mit seinem Buch zum Nachdenken an. Als Leser stellt man sich unweigerlich die Frage, wie man sich selbst in solch einer Situation verhalten hätte. Der Leser erkennt zwar, dass einige Verhaltensweisen falsch sind, doch gleichzeitig weiß er nicht, wie man sich hätte anders verhalten sollen.
Wie das Nachwort verdeutlicht, möchte Morpurgo unter anderem auf die damaligen Missstände in der britischen Armee und auf die unversöhnliche Haltung der britischen Regierung aufmerksam machen. Denn genau wie Charlie hatten viele wegen Desertion verurteilte Soldaten keine Verteidigung bekommen. Dem Autor ist es in jedem Fall gelungen, seine ergreifende Erzählung in einen realistischen, kulturellen und historischen Rahmen einzubinden. Durch eine klare und authentische Beschreibung hat er mit „Mein Bruder Charlie“ ein herausragendes Werk von großer Literarizität geschaffen, das sowohl jugendliche als auch erwachsene Leser anspricht und dessen Thematik an Aktualität nicht verlieren wird. Sein Buch ist bis ins kleinste Detail durchdacht und weist immer wieder Verästelungen innerhalb der Handlung auf. Morpurgo, der schon mehrfach für seine Kinderbücher prämiert wurde, erhielt auch für dieses Jugendbuch europaweit große Anerkennung.
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