Reschke, Karin: Kalter Hund
Der Brennnessel ganz nah ist oft die Rose
von Janna Beisenbusch und Lieseke Ruschmeier (2009)
„Ich wollte damals weinen […] in schlimmer Zeit, konnte es aber nicht. Meine Augen blieben trocken, als müssten sie das Gehörte in aller Schärfe sehen.“ So begibt sich Rose mit geschärften Augen und gespitzten Ohren auf den Weg des Erwachsenwerdens und die Suche nach ihrem Glück. Dabei hat sie einige Hürden zu überwinden: eine kaputte und geteilte Stadt, nach Amerika auswandernde Liebhaber und nicht zuletzt eine verkorkste Familie, aus der Mutter und Großeltern den Vater, den „Schuft“, verbannt haben.
In ihrem neuen Roman „Kalter Hund“ erzählt Karin Reschke die Geschichte der jungen Rose Rapmund, die im Berlin der Nachkriegszeit aufwächst. Die Stadt ist vom Zweiten Weltkrieg zerstört, von den Spuren der Besatzung gezeichnet und in Ost und West geteilt. Doch all das interessiert Rose nicht so sehr wie die russische Literatur, die sie sich in der Arztpraxis von Dr. Schievelbein ausleiht, und die Suche nach ihrem Vater und der gemeinsamen Vergangenheit. Dabei wendet Rose sich an Freunde der Familie und weitere Verwandte.
Felicitas, die beste Freundin ihrer Mutter Lissy, kann ihr dabei nur mäßig helfen, jedoch liefert sie Rose Einblicke in das Doppelleben der Mutter. Diese arbeitet nämlich nicht, wie vorgegeben, in einem Büro, sondern fährt täglich in den Ostteil der Stadt, wo sie als Sprecherin des Ostradios beschäftigt ist. Den Versuch, von ihrer Mutter Auskunft zu erhalten, hat Rose schon lange aufgegeben, seit Lissy nach der Scheidung von Rapmund vornehmlich mit sich selbst beschäftigt ist und Rose von ihrem Vater fernzuhalten versucht. Die einzige Gemeinsamkeit zwischen Mutter und Tochter scheinen die zahlreich auftauchenden Verehrer und die zumindest anfängliche Zurückhaltung ihnen gegenüber zu sein.
Die Großeltern, die sich nach der Scheidung um Rose kümmern und versuchen, sie von Rapmund abzuschirmen, üben sich in Schweigen. Das einzige, was sie ihm zugute halten, ist die Rettung vor den Russen, indem er sie während des Krieges nach Berlin mitnahm.
Gegen den Willen ihrer Familie gelingt es Rose, Kontakt zu dem „Schuft“ herzustellen und durch die vielen mehr oder minder geheimen Treffen mit ihm eine Beziehung zu ihrem Vater aufzubauen. Dieser ist begnadeter Radiosprecher und weiß seine Stimme als Instrument einzusetzen: „Pauke, Piano, Flöte, Sirene. Das Mikrofon hebt die Eigenschaften des Sprechers und seine Stimmlagen hervor, es kommt aber darauf an, die Eigenschaften seines Instruments zu stimmen“. Doch in Bezug auf die Familienvergangenheit, die Rose so brennend interessiert, schweigt auch er. Obwohl Roses Vater einen entscheidenden Teil ihrer Kindheit nicht miterleben konnte, wird er zu ihrem engsten Vertrauten, dem sie alle persönlichen Erlebnisse erzählen kann.
Die gemeinsame Zeit mit ihm ist allerdings nur von kurzer Dauer: Nach einem plötzlichen Stimmverlust, der ein Ende der Treffen und den Beginn eines Briefwechsels bedeutet, stirbt er. Er hinterlässt ihr jedoch einen letzten Brief, in dem er seine früheren Fehler einräumt und ihr seine Version der Familiengeschichte näherzubringen versucht.
Der Verlust des Vaters ist nicht der einzige in Roses Leben: Auch die Großmutter, die das Familienleben bis zum Schluss zusammenhielt, verstirbt. Darüber hinaus hat Rose auch bei den Männern kein Glück: Zwei ihrer Liebschaften siedeln nach Amerika um, andere verlaufen sich im Sand, und ihre jüngste große Liebe, Toni Siebert, erliegt seiner schweren Lungenkrankheit.
Roses Leben ist geprägt von einschneidenden Erlebnissen und Schicksalsschlägen, mit denen sie umzugehen weiß. Aufgewachsen nur unter Erwachsenen, hat sie kaum Interesse an Gleichaltrigen und sucht sich ein neues Zuhause in der Welt ihrer russischen Bücher, die für sie eine Zuflucht darstellen. Karin Reschke präsentiert mit ihrer Protagonistin ein lebensmutiges Mädchen, das sich trotz einer Familie mit eigenen, strikten Regeln seine Freiheiten herausnimmt und mit Selbstbewusstsein und Intelligenz durch sein Leben schlägt.
Die in Berlin aufgewachsene Autorin erschafft mit ihrem Initiationsroman „Kalter Hund“ eine Szenerie, in die man sich nur schwer einfühlen kann. Rose, die jugendliche, aber doch schon so abgeklärte Hauptfigur, gewährt dem Leser keinen Zutritt zu ihrem Gefühlsleben. Selbst so einschneidende Erlebnisse wie erste Küsse und Verliebtheiten, aber auch der Umgang mit dem Tod, der Nachkriegszeit und zerrütteten Familienverhältnissen, werden verhalten und emotionslos beschrieben. Das Auftauchen nie gesehener Verwandter und die überraschende Tatsache, das jüngste Kind einer großen ‚Kinderschar‘ des Vaters zu sein, werden lediglich distanziert geschildert, dem Leser wird mit keinem Wort verraten, wie Rose all das verarbeitet. Die kühle Sachlichkeit, mit der Rose sich selbst sieht und die sicherlich ihren Ursprung in ihrer Entwicklung in einem reizlosen Umfeld hat, spiegelt sich in Reschkes Erzählstil wider. Episodenhaft wird Roses schritthafte Entwicklung skizziert. Zwar ist diese Entwicklung durch Reschkes kühle Art des Erzählens gut nachvollziehbar, doch könnte im Nachhinein gefragt werden, ob der Titel „Kalte Schnauze“, wie der besagte Kuchen in anderen Regionen ja auch genannt wird, nicht treffender wäre.