Turkowski, Einar: Die Mondblume
Im Zaubergarten
von Ulrich Kreidt (2009)
Gleich beim Öffnen von Einar Turkowskis Bilderbuch „Die Mondblume“ schlagen einen die – ausschließlich schwarzweißen – Bilder in den Bann. Das ist umso erstaunlicher, als scheinbar gar nicht so viel auf ihnen ‚passiert’. Das erste zeigt z.B. ein ländliches Anwesen mit hohen, geschlossenen Mauern. Unter einem schwarzen – wirklich lackschwarzen – Himmel leuchten die Wände, Dächer und Bäume auf wie bei ganz hellem Mondschein. Es liegt etwas Magisches, fast Unheildrohendes über der Szene; auch zu ihr würde der Titel von Turkowskis vorletztem Buch passen: „Es war finster und merkwürdig still“. (Übrigens hat dieses Buch, sein Erstlingswerk, 2007 auf Anhieb den renommierten Grand Prix der Biennale der Illustrationen in Bratislava gewonnen und den Autor international berühmt gemacht.)
Als relativ harmlos erscheint auch der Text: Ein Herr Ribblestone ist Besitzer eines Anwesens mit einem riesigen, labyrinthischen Garten, der von ihm allein gepflegt und sehr bewusst genossen wird. Für seinen Lieblingsplatz sucht er eine ganz besondere Blume aus, wird aber von einer unbekannten Pflanze überrascht, die sich dort von selbst ansiedelt, unter seiner Pflege groß wird und eine riesige Knospe hervorbringt – die sich dann aber partout nicht öffnen will. Herr Ribblestone unternimmt nun alles Mögliche, um die Pflanze doch noch zum Blühen zu animieren. Er führt dazu sogar ein Theaterstück auf – alles vergebens. Bis sich in einer Vollmondnacht die Blüte doch noch öffnet, was sie ab dann stets bei Vollmond tut, in der Dunkelheit leuchtend und Lichtstaub aussendend.
Insgesamt also eine Geschichte – eine „Fantasie“ wird sie im Untertitel genannt –, die an Dramatik noch überboten werden könnte. Andere Personen kommen nicht vor (einmal wird das Ausbleiben von Besuchern erwähnt, überhaupt sind Gästen Haus und Garten nicht geheuer), sie scheinen dem Helden auch nicht zu fehlen, weil seine ganze Aufmerksamkeit auf die Dinge um ihn herum, vor allem die Natur, gerichtet ist – ihr gelten Gefühle wie Hoffnung, Enttäuschung, Freude. In der Faszination für die Dinge liegt sicher eine Gemeinsamkeit zwischen Mr. Ribblestone und dem Autor. Allerdings lässt sich Turkowski – indes schon weniger stark als in seinem Erstlingswerk – auch von menschengemachten Gegenständen begeistern. Vorrichtungen aus Stangen, Schraub-Platten, Seilen usw. werden (einschließlich der liebevoll geschilderten Abnutzungsspuren) mit einer Genauigkeit wiedergegeben, dass man sie nachbauen könnte – wenn man wüsste, wozu. Die Objekte sind zwar zweckmäßig gestaltet, dienen aber keinem (oder einem absurden) Zweck. Deshalb wirken die Zeichnungen auch nicht zwanghaft, sondern witzig und poetisch.
Die Technik, mit der Turkowski all diese Dinge schildert, ist die Bleistiftzeichnung. In dem erfreulich ausführlichen Nachwort, in dem der Verlag die Technik des Zeichners und die Sorgfalt bei der Reproduktion schildert, erfahren wir, dass ausschließlich Minen der Stärke HB – also die gängigste Sorte, die wir aus der Schule kennen – verwandt wurden. Aber was hat Turkowski damit nicht alles angestellt! Neben der Präzision, mit der die Umrisse aller Dinge genau definiert werden und die Stärke eines geschwungenen Pflanzenstängels oder eines Seils über die ganze Länge genau gleich gehalten wird, steht die äußerste Zartheit, mit der Grauflächen angelegt werden: Auf der einen Seite sind sie dunkler, um Schatten, und dann wieder hell unterbrochen, um Erhebungen darzustellen. Mal streichelt der Bleistift so leicht das Papier, dass dessen Struktur sichtbar wird, mal wird über eine gewischte Graufläche ein Netz von Punkten und Häkchen gelegt ... Gerade die Beschränkung auf nur eine Zeichentechnik zeigt die virtuose Vielfalt ihrer Anwendungsmöglichkeiten.
In der „Mondblume“ wendet der Autor sein Interesse verstärkt der Natur zu. Allerdings sind auch hier die Grenzen fließend. Auf zwei Tafeln stellt er z.B. selbst erfundene Tiere vor, die teils wie vertracktes Blechspielzeug aussehen (und auch mit Aufdreh-Schlüsseln, Glühbirnen etc. ausgestattet sind). Andere, sonst sehr realistisch gezeichnete Tiere schmücken sich mit Buchstaben oder Zahlen. Diese Verbindung von Genauigkeit und Phantastik findet sich überall: So spricht der Text von „hellen Wolken, die wie luftige Riesenfische langsam über die Landschaft zogen“, und im Bild schweben wirklich genau erfasste Großfische über den nachtschwarzen Himmel. Oder wenn allgemein vom Interesse der Gartentiere für die neue Pflanze gesprochen wird, versammeln sich auf dem Bild menschengroße Nachtfalter, die ihre zusammengelegten Flügel wie prächtige Mäntel tragen.
Realistische Wiedergabe von Natur steht allerdings seit jeher vor einem unlösbaren Problem: der unendlichen Vielfalt der Naturformen. Sieht man sich nur einen Baum näher an, lässt sich die Fülle der Blätter und Zweige kaum erfassen. Wie soll das graphisch ‚umgesetzt’ werden? Auch hier findet Turkowski überraschende Lösungen. Auf einem Bild z. B. sind die Baumkronen – vielleicht nach dem Vorbild persischer Miniaturen – in Ornamente aufgelöst, teils mit Pflanzenformen, teils aber auch mit abstrakten Mustern. Diese sind so kompliziert, dass sie nicht auf einen Blick erfasst werden können; gleichzeitig folgt die Fülle der Linien einer gemeinsamen Bewegung. Was wir bei einer Baumfront vor uns haben – eine unfassbare Formenvielfalt, die trotzdem vom Wind in eine gemeinsame Bewegung gesetzt wird – ist hier in ein graphisches Muster gebracht worden.
Überhaupt Bewegung: Wenn von Genauigkeit die Rede ist, liegt der Schluss nahe, dass damit Bewegungslosigkeit verbunden ist, weil die Dinge gewissermaßen ‚stillhalten’ müssen. Tatsächlich findet sich hier wenig ‚Action’, aber die Dinge halten nicht still. Als die Blume endlich aufgeblüht ist, erscheint sie umgeben von großen, lebensbaumartigen Bäumen, die sich biegen und beugen, als reagierten sie unmittelbar auf das Außerordentliche des Augenblicks.
Derartige und viele andere Beobachtungen erschließen sich erst, wenn man sich Zeit nimmt, die Bilder eingehend und immer wieder zu betrachten. Während heute sonst oft Bilder sich gegenseitig auslöschen und überschreien, bekommen sie hier immer mehr Tiefe und Reichtum, je öfter man zu ihnen zurückkehrt. So geht etwas von der Ruhe, mit der Turkowski an seine Zeichnungen herangegangen ist, auf den Betrachter über.
Ein besonderes Lob muss zum Schluss noch dem Atlantis-Verlag für die liebevolle Sorgfalt beim Druck und bei der Ausstattung des großzügig layouteten Buches ausgesprochen werden. Das phänomenale Lackschwarz wurde schon erwähnt; aus dem Nachwort erfährt man z.B. auch, dass zur Erzielung der höchst differenzierten Grautöne nach vielen Versuchen die richtige Zusatzfarbe gefunden wurde: ein ganz helles Ocker. Es erscheint in reiner Form nur einmal: auf dem Cover, beim „o“ des Titelworts, das natürlich als Mond gestaltet ist.