Rahlens, Holly-Jane: Mauerblümchen
Durch die Wand
von Nana Wallraff (2009)
„Die Mauer ist offen. Und ich bin zu. Das war schon immer so. Nicht die Mauer, natürlich, die ist erst seit zwei Wochen offen. Sondern ich. Ich war schon immer zu, habe mich hinter einer Wand versteckt, mich dort eingenistet und werde da auch nicht mehr rauskommen.“
So stellt sie sich vor, Molly Lenzfeld, die Protagonistin von Holly-Jane Rahlens jüngstem Werk: „Mauerblümchen“. Dabei ist sie keineswegs unauffällig – die junge Deutsch-Amerikanerin jüdischer Abstammung misst immerhin 1,86 m und trägt Schuhgröße 44. Die Jungs in ihrer Klasse reichen ihr „gerade mal bis zum Kinn“. Molly lebt wegen einer Gastprofessur des Vaters seit einigen Monaten in Berlin. Sie ist schüchtern, fühlt sich deshalb verloren und findet keinen Anschluss. Aus diesem Grund möchte sie in zwei Tagen zu ihrer großen Schwester nach New York zurückkehren. Doch vorher hat sie noch eine „Mission“: Sie will das Geburtshaus ihrer verstorbenen Mutter in Ost-Berlin besuchen. Von der Mauer im Hof, die für ihre Mutter von besonderer Bedeutung war, möchte sie einen Stein abmeißeln, den sie – entsprechend der jüdischen Tradition – auf das Grab ihrer Mutter legen will.
Und dann gewinnt die Geschichte an Fahrt, wobei die Autorin Molly auf eine fesselnde Reise quer durch Berlin schickt. Zwei Wochen nach dem Fall der Mauer besteigt Molly in Charlottenburg die S-Bahn der Linie 3 mit dem Ziel Schönhauser Allee. Zielstrebig entwickelt Holly-Jane Rahlens verschiedene, eng miteinander verwobene Handlungsstränge in der Art eines amerikanischen Road-Movies: Mollys Reise ist gekennzeichnet von Bewegung, von Tempo- und Richtungswechseln. Sie bewegt sich ausschließlich in den Bahnhöfen und Zügen der S- und U-Bahn. Und während ihrer Fahrt mit den Berliner Verkehrsmitteln stellt sich heraus, dass Mollys Weg das eigentliche Ziel ist.
Erzählt wird eine Liebesgeschichte: Ein Junge steigt zu, beachtet sie scheinbar nicht, flirtet sogar mit Mollys Lieblingsfeindin. Dann, später, schließen sie Bekanntschaft, lernen sich kennen und kommen sich nah. Er heißt Mick, „wie Jagger“, ist noch größer als Molly, Schauspielstudent und kommt aus Ost-Berlin. Im Gegensatz zu ihr ist er keineswegs schüchtern, versteckt sich nicht, sondern begegnet ihrer sympathisch verklemmten, selbstironischen Art mit beinahe offensiver Begeisterung. Gegensätzlichkeit ist denn auch ein Thema des Buches. Immer wieder werden wir damit konfrontiert: Molly und Mick, Westen und Osten, Bewegung und Stillstand, Liebe und Zorn.
Aber Rahlens erzählt auch eine deutsche Geschichte. Sie lenkt den Blick auf das Detail, findet im Speziellen eben die Stereotype, die das Bild Deutschlands von vor zwanzig Jahren so realistisch erscheinen lassen. Als Molly und Mick auf ihrer Odyssee der Hunger packt, lotst Mick die beiden in ein rauchvergilbtes, funzlig beleuchtetes „Mitropa“-Restaurant, in dem die dicke Luft ausnahmsweise nicht nach Desinfektionsmittel, sondern nach Kohl stinkt. Die ‚Piefigkeit‘ und auch die den ganzen Alltag durchdringende Menschenverachtung des Systems werden in dieser Szene überdeutlich. So will der Kellner die beiden jungen Leute nicht an einem gerade freigewordenen Tisch platzieren, da es sich bei diesem um einen „Tisch für vier Personen“ handle. So seien die Vorschriften, Molly und Mick könnten ja auf einen Zweiertisch warten …
Dass Rahlens für ihre Geschichte die Perspektive einer Deutsch-Amerikanerin gewählt hat, ermöglicht ihr einen ungetrübten Blick auf beide Seiten Deutschlands. Die „nicht dazugehörige“, versponnene Molly erspart uns den arroganten Blick des Besserwessis. Der Autorin gelingt es so, den Moment der Wende zu vergegenwärtigen. “Wir waren die Geschichte. Wir alle. Gemeinsam. Das war ein irres Gefühl!“ So formuliert es Mick.
Schließlich ist „Mauerblümchen“ eine sehr persönliche Geschichte: Bei ihrer Mission überwindet die Hauptfigur eigene Mauern, öffnet sich, überdenkt Entscheidungen, orientiert sich, korrigiert sich – und wächst. Bis sie schließlich den Mut hat, eine Entscheidung zu treffen. Holly-Jane Rahlens ist ebenfalls Amerikanerin jüdischer Abstammung. Seit mehr als 30 Jahren lebt sie in Berlin. Die Parallelen von Mollys Biographie zu der der Autorin und die ausführlichen, liebevollen Danksagungen erwecken den Eindruck, dass es auch für die Autorin eine sehr persönliche Geschichte ist.
Mit Molly hat Holly-Jane Rahlens eine höchst lebendige und außerordentlich liebenswerte Figur geschaffen. Dabei bleibt die Erzählung durchweg fesselnd, häufig komisch, manchmal tragisch, immer anregend – aber wirkt nie belehrend.