N´Sondé, Wilfried: Das Herz der Leopardenkinder
Die Migration frisst ihre Kinder
von Thomas Mayerhofer (2009)
Eigentlich hatte er es geschafft, wie selbstverständlich: glückliche Kindheit, aufregende Jugend, Abitur, Studium. Anders als Drissa, sein schon früh dem Wahnsinn erlegener Freund, sein Zerrspiegel und zusammen mit ihm und Mireille für Jahre – und wie es schien für immer – der Dritte im Bunde. Und dann das. Dieses Verhängnis. Dieses Gefängnis. „Ach, Franzose? Sieht man dir gar nicht an“ – Doch es ist nicht die schwarze Haut, die ihn hierher gebracht hat, es ist seine Seele, die sich verdunkelte, ihn vergiftete, ihn erst sinnlos werden ließ und dann besinnungslos. „Meine Beine beginnen zu zittern, mein Herz rast wie verrückt, eine quälende, ranzige Flut überschwemmt meinen Körper. Ich hätte vor Schmerz weinen wollen oder lieber schreien. Tief in mir hörte ich ein Tier im Todeskampf brüllen.“
Was ist geschehen? Seine Erinnerung ist lückenhaft, nebulös – und sie tut weh, schmerzt noch mehr als die Schläge der Polizisten, die der Protagonist von Wilfried N`Sondés Roman „Das Herz der Leopardenkinder“ einstecken muss. Nun sitzt er in Untersuchungshaft, weiß nicht, wie ihm geschieht, weiß vor allem nicht, was ihm geschah. Die Polizisten lassen Tritte und Worte auf ihn niederprasseln, wollen nur eines: ein Geständnis. Den Leser hingegen erwartet ein Bekenntnis. Das Bekenntnis eines jungen Mannes zu seinen lange verdrängten und beiseite zivilisierten kongolesischen Wurzeln, zu seiner Wildheit, zu seiner Wut. Das Bekenntnis vor allem zu einer großen Liebe, zu einem Glück, das tiefe Ewigkeit suchte und das, für immer vergangen, nur noch im Erinnern und Erzählen existiert.
Diese Liebe war Mireille, eine Tochter algerischer Juden, ein Migrantenkind wie er, wunderschön und – makellos. Frei vom Makel dieser schwarzen Haut und von falscher Loyalität zum Viertel. Sie will sich nicht festlegen lassen auf den Ort ihres Aufwachsens, sie will weiter wachsen. „Arme Mireille, was warf man ihr vor? Sie wollte nur anders, woanders leben und nicht mehr so aussehn wie die, die immer zu spät dran sind und auf dem Abstellgleis enden. Die ewig Zuschauer bleiben mit zitternden Knien und neidischen Blicken, Beschimpfungen auf der Zunge und die geballten Fäuste schlagbereit.“ Mireille ist frei zu gehen, frei vom vielstimmigen Chor der Vergangenheit, der den jungen Mann bedrängt, ihn aufrichtet, ihn in den Abgrund stürzt.
Im inneren Dialog mit sich selbst und seinen Ahnen sieht er sein Leben als Ganzes und Teil eines größeren Ganzen. Seine Geschichte wird zum Symbol und zur quälenden Wiederholung der Geschichte seines Volkes: kolonialisiert, domestiziert, befreit und schließlich, den Gefahren der zügellosen Freiheit erlegen, im Chaos versunken. In seinerAbrechnung mit den selbsternannten alten und immer neuen Herren Afrikas, den kleineren und größeren Verbrechern, verwischt N´Sondé die Grenzen zwischen Autor-Biographie und Fiktion: „Charlemagne Ngouvou, Jeanne d´Arc Maboundi, Wilfried N´Sondé, Anatole Nganga – was ist aus uns geworden, Ahne, wenn uns nicht einmal bewusst ist, dass wir mit diesen lächerlichen Namen den früheren Herren nacheifern. […] Und wer, Ahne, sind wir wirklich? Sieh, was aus mir geworden ist!“
Frankreich, Europa – für die Entwurzelten bleibt es ein Exil. Die neue Heimat, diese selbst ernannte ‚Einwanderergesellschaft‘ und vermeintlich überlegene Zivilisation, stößt da an ihre Grenzen, wo die Ur-Angst vorm schwarzen Mann übermächtig wird. Die alte Heimat wiederum ist nur noch ein verblassender Mythos, eine unheilvolle Vergangenheit, und geht ihrer endgültigen Auflösung entgegen.
Was bleibt ist die Liebe, die schon gelebt wurde, die einem kein Kommissar, kein Gericht und kein Staat mehr nehmen kann. Diese verspielte und wolllüstige, diese hochmütige Liebe zu Mireille. „Mireille, ach Mireille, was ist die Liebe, Mireille? […] [M]ein Begehren kentert in deinem Gewitter, du flüsterst mir zu, hör jetzt nicht auf. Ich stürze uns in einen wunderbaren Untergang. Du erfindest Symphonien aus Schreien und Seufzern. Das ist die Hymne der Liebenden.“
Die Hymne der Liebenden ist nur einer der drei erzählerisch geschickt ineinander verwobenen Stränge dieser Romankomposition. Jeweils am Punkt der größten Spannung vollzieht N´Sondé fliegende Wechsel zwischen der Liebesgeschichte, der allmählichen Rekonstruktion des schicksalhaften Vorfalls, der den Aufhänger der Geschichte bildet und den kulturkritischen Reflexionen im inneren Dialog mit den Ahnen.
Gewaltig, poetisch, fremd und berauschend ist N´Sondés Roman Aufschrei, Liebeserklärung und politisches Manifest zugleich. Leidenschaftlich ist die Schilderung der verzehrenden Liebe, leidenschaftlich auch der Zorn über diesen vergewaltigten Kontinent, über das Afrika jenseits von Ferres-Filmen. Die Sprache des Romans ist bildreich und weitestgehend frei von verbrauchten Vokabeln, dabei unprätentiös und authentisch. Diese hohe Authentizität sowie die erstaunliche Dichte und der Rätselcharakter des Romans machen diesen so bewegend und lange nachwirkend, wobei Brigitte Große das Verdienst einer hervorragenden Übersetzung zukommt.