Penndorf, Julia und Ingo Schulze: Der Herr Augustin
Zusammen glücklich sein
von Stephanie Henk (2009)
„Es gibt Dinge, die sich davonstehlen, und Dinge, die mir treu bleiben. Die Dinge, die ich nicht mag und die sich davongestohlen haben, sollen mir gestohlen bleiben. Auf die Dinge, die ich mag und die sich davongestohlen haben, muss ich solange geduldig warten, bis sie wieder zu mir zurückkehren. Über alle anderen Dinge denke ich morgen nach.“
Mit dieser Lebensphilosophie geht unser pensionierter Herr Augustin durchs Leben, und eigentlich ist er ja ein ganz netter Mensch. Manchmal ist er ein wenig zerstreut – aber was kann er dafür, wenn er aus Versehen mit dem rechten Arm in sein Hemd und mit dem linken in seinen Mantel gefahren ist und beides vor der Brust zusammengeknöpft hat? Oder dass er manchmal zur Begrüßung in die Luft greift, weil er vergessen hat, seinen Hut aufzuziehen? Oder hat er ihn vielleicht doch verloren?
Dass die Kinder ihn deswegen auslachen und sich noch nicht einmal entschuldigen, macht ihn so wütend, dass er kurzerhand einen Stein nach einem Jungen wirft, doch das Geschoss trifft leider ein Mädchen: „Aber das Mädchen hatte fast genauso böse gelacht wie der Junge.“ Er hat vor nichts und niemandem Angst, auch nicht vor den wütenden Eltern des Mädchens, welches nach seiner Steinattacke ins Krankenhaus muss. Nicht mehr mit Steinen nach Kindern zu werfen, verspricht er aber dennoch.
Doch als die Kinder ihn als dumm und böse bezeichnen und ihm die Zunge rausstrecken, ist es eine tote Krähe aus dem Rinnstein, die als Wurfgeschoss herhalten muss. Obwohl er wütend ist, macht dies den Herrn Augustin doch alles sehr traurig, sodass er, ohne nach rechts und links zu schauen, auf die Straße läuft, wobei er das herankommende Postauto einfach übersieht. Als er die Augen wieder aufschlägt, blickt er in den Himmel, was er schon sehr lange nicht mehr getan hat. Das Mitleid der Leute und die erschrockenen Stimmen der Kinder zaubern ihm ein glückliches Lächeln aufs Gesicht und am liebsten würde er sie grüßen, „doch konnte er den Hut auf seinem Kopf nicht finden, und so sagte er lieber nichts.“
Im Krankenhaus entdeckt er als erstes seinen Schirm, dann seinen Hut und als drittes das Mädchen, dem er den Stein an den Kopf geworfen hat. Er ist so glücklich, dass „die Dinge ihn doch mögen“, denn sein Regenschirm und sein Hut sind ihm ja schließlich ins Krankenhaus „gefolgt“. Er streichelt dem Mädchen die Hand, und von nun an entwickelt sich eine Freundschaft zwischen ihnen. Als beide wieder aus dem Krankenhaus entlassen werden, findet das Mädchen einen ausgesetzten Hund und holt den Herrn Augustin sofort zur Hilfe. Sie geben ihm Wasser und Würstchen, und er wird zu ihrem ständigen Begleiter. „Und manchmal“, sagt der Herr Augustin, „manchmal bekommt man auch etwas, noch bevor man Zeit hatte, es sich zu wünschen.“
In seinem ersten Bilderbuch erzählt Ingo Schulze eine nachdenkliche Geschichte über Einsamkeit und Freundschaft, über Glück und was passiert, wenn man sich einfach mal über die kleinen Dinge freut. Die einfache Sprache sowie viel wörtliche Rede und großflächige Illustrationen von Julia Penndorf machen dieses Buch zu einem hervorragenden Zeige-/Vorlesebuch für Kinder ab vier Jahren und sorgen sicherlich auch bei kleinen Erstlesern für großen Lesespaß. Der Flattersatztext, bestehend aus großen, serifenlosen Buchstaben, ist in durchgestaltete Doppelseiten einkomponiert. Diese sind mit bunter, teils gerissener, teils geschnittener Bastelpappe, Tonpapier oder Packpapier, collageartig und meist ohne farbigen Hintergrund gestaltet. Gegenstände werden meist vereinzelt oder isoliert dargestellt, und in manchen Illustrationen wird der Akteur der im Text geschilderten Handlung gar nicht verbildlicht. Die einfachen und farbenfrohen, teilweise aquarellierten Illustrationen dominieren das Buch und treten zu dem Text in ein ganz eigentümliches Verhältnis. Mitunter stellen sie reduziert dar, wovon er handelt, dann wieder umspielen sie seine Aussage oder kontrapunktieren ihn. Auf einer Seite geht die Illustration ins Symbolische (ein Kleeblatt steht für Glück), auf einer anderen ins Exemplarische, wobei das Bild über den Text hinausweist: Dinge werden abgebildet, die verloren gehen können, z. B. Schlüssel, die im Text jedoch nicht erwähnt werden. Auffällig ist, dass der Text eher ruhig und friedlich geschrieben ist, die Bilder aber oft unruhig bis aggressiv wirken. Diese Diskrepanz zwischen Text und Bild eröffnet neue Wahrnehmungserlebnisse, wodurch die Aufmerksamkeit und Neugier beim Lesen und Betrachten geweckt wird. Der Text ist für die angesprochene Altersgruppe eher anspruchsvoll und untypisch, was z. B. auch durch das Spielen mit fremden und veralteten Begriffen, wie z. B. „Habe die Ehre“ als Begrüßung, deutlich wird. Hierdurch wird bewusst eine Distanz zum Leser aufgebaut. Und wenn man zum Schluss erfährt, dass der Herr Augustin gar nicht Augustin heißt, versteht nur ein Älterer, dass Ingo Schulzes Geschichte auf das heute nicht mehr so bekannte Wiener Volkslied „Oh, du lieber Augustin“ mit seinem Refrain „Alles ist hin“ anspielt.
Ingo Schulze („Simple Storys“, „Adam und Evelyn“) und Julia Penndorf haben mit diesem Buch, das sowohl auf der Text-, als auch auf der Bildebene einen großen Bereich für die eigene Vorstellungskraft eröffnet, etwas Außergewöhnliches geschaffen. Zugleich ist „Der Herr Augustin“ ein schönes Beispiel dafür, dass sich nun auch im deutschen Sprachraum arrivierte Schriftsteller(innen) wie Irene Dische, Hans-Magnus Enzensberger, Felicitas Hoppe, Thomas Lehr, Burkhard Spinnen, Juli Zeh oder eben auch Ingo Schulze nicht mehr scheuen, auch für Jüngere zu schreiben.