Rodriguez, Béatrice: Der Hühnerdieb
Fuchs, du hast mein Weib gestohlen
von Peter Berghaus (2009)
Das Leben könnte nicht schöner sein, als die fröhliche Hausgemeinschaft den sonnigen Morgen begrüßt. Während Bär vor dem gemeinsamen Haus noch verschlafen gähnt, reißt Hase die Fensterläden auf, derweil die Hühner, begleitet von Hahnengeschrei, schon munter scharren. Der prächtige Sommertag lädt zu einem gemeinsamen Frühstück vor dem Hause ein. Es könnte so beschaulich weitergehen, wäre da nicht Fuchs, versteckt im nahen Gebüsch, der eines der Hühner schon fest im Blick hat.
Als das schreiende Huhn seinen entsetzten Freunden entrissen wird, scheinen alle Klischees erfüllt, und doch wird uns die Französin Béatrice Rodriguez in ihrem Bilderbuch „Der Hühnerdieb“ eine ganz unerwartete Geschichte erzählen, die völlig ohne Worte auskommt.
War das Eingangsbild noch exponiert gerahmt und stellte damit die Idylle aus, wird die kommende abenteuerliche Verfolgungsjagd durchgängig auf detailreichen Doppelseiten gezeigt. Trotz der spannenden Ereignisse verlieren die mit Kohle geschwärzten, kolorierten Graphitzeichnungen dabei nie ihre Niedlichkeit, und mit wenigen Strichen weiß die Autorin jeden Gefühlsausdruck überzeugend darzustellen. Immer wieder schafft ihr erfrischend überzeichneter und doch reduzierter Stil den Kontrapunkt zur Erdigkeit der verwendeten Farben und zur Dramatik der Ereignisse. Die überwiegend verwendeten Panoramabilder erlauben das Darstellen der Gleichzeitigkeit von Verfolgern und Verfolgten und unterstreichen zudem den Kontrast zwischen den Gefühlswelten der tierischen Akteure in diesem überaus komischen Katz-und-Maus-Spiel.
Das eroberte Huhn scheint sich nämlich mit zunehmender Zeit gar nicht so unwohl bei seinem Entführer zu fühlen, es schläft selig angeschmiegt in seinen Armen, während ihnen der zornige Hahn und seine tierischen Freunde immer erschöpfter, aber unverdrossen nachjagen. Zugutehalten muss man der Gefiederten, dass sich ihr Kidnapper auch wirklich liebevoll um seine Beute kümmert, und es scheint, als ob der Fuchs, dessen Lächeln im Moment des Raubes vielleicht schon verräterisch war, nicht auf ein Festmahl aus ist. Die Flucht geht weiter bis zum Meer, wo ein völlig verzweifelter Bär zum lebenden Floß werden muss, um dem Kahn der Fliehenden, die derweil augenscheinlich eine sommerlich entspannte Ruderpartie unternehmen, folgen zu können. Wie dieses in seiner Gewaltigkeit an Hokusais „Die große Welle vor Kanagawa“ erinnernde Bild erfreuen die Panoramen wiederholt durch Bildzitate.
Auf einer die Synchronität brechenden Doppelseite erreichen die verfolgenden Freunde schließlich erschöpft das rettende Land und das erleuchtete Haus des mutmaßlichen Diebes. Die letzten Phasen der Verfolgung werden in einer einzigen Illustration gebündelt, wobei die Künstlerin raffiniert mit der vergehenden Erzählzeit spielt. Erneut offenbart Rodriguez hier ihr Können, ihre Bildaufteilung unterstützt meisterhaft den Spannungsverlauf, und ihr Seitenlayout trägt zur optimalen Verdichtung des Erzählten bei. In Stationenbildern wird anschließend das Zusammentreffen erzählt: Als die zornigen Freunde die Verfolgten erreichen, wendet das Huhn mit leidenschaftlicher Fürsprache die drohende Gefahr für den Räuber ab und unter Kichern (der Bär und der Hase) bzw. Ohnmacht (der Hahn) der verhinderten Befreier bekennt sich das Huhn zu seinem neuen artfremden Geliebten. Gemeinsam verbringen die neuen und alten Freunde den Abend, um am nächsten Morgen in ein getrenntes Leben für ein glückliches Huhn und einen zerknirschten Hahn aufzubrechen.
Ein herzergreifendes, komisches Abenteuer über eine unerwartete Liebe gegen die Natur, an dem auch Erwachsene dank der bildkünstlerischen und kinderliterarischen Zitate und der witzigen Illustrationen ihre Freude haben werden. Ein wunderschönes Bilderbuch.