Hanika, Beate Teresa: Rotkäppchen muss weinen
Zartbitter
von Jane Eschment (2009)
Malvina steht kurz vor ihrem 14. Geburtstag. Sie wünscht sich nichts sehnlicher als ein ‚normales’ Teenagerdasein mit Liebe, Partys und Unabhängigkeit. Doch ihr Leben gleicht einem heillosen Durcheinander, und während Malvina verzweifelt versucht Ordnung zu schaffen, wird immer wieder von neuem Verwüstung angerichtet.
„Opa hat mich geküsst“, sagt Malvina beim Abendessen. Oder hört nur sie selbst sich das sagen? Denn weder ihre Eltern, noch ihre Geschwister nehmen ernsthaft Notiz von ihren Worten. Stattdessen belächelt man einstimmig Malvinas pubertäres Theater. In der Hoffnung, jemand finge endlich an, nach den Gründen ihres Abwehrverhaltens zu bohren, versucht Malvina zu verhindern, alleine zu ihrem Opa fahren zu müssen. Doch um Malvina herum wird geschwiegen. Niemand bringt die Blase aus Angst und Schamgefühl zum Platzen. Und so fährt sie auch in den letzten zwei Wochen vor ihrem 14. Geburtstag mit Kuchen und Wein im Fahrradkorb zu ihrem Großvater.
Seit Malvinas Oma an Krebs verstorben ist, mimt der Opa den einsamen und kranken alten Mann. Er verlangt nach seiner ‚Lieblings-Malvina’ und missbraucht seinen Status als nahestehendes Familienmitglied. Für ihn implizieren Malvinas Besuche das Recht, über ihren Körper herzufallen, sie zu berühren und ihr weiszumachen, dass sein Wohlbefinden und damit der Familienfrieden in Malvinas Verantwortung lägen. Seine subtilen Drohungen stiften Angst und Verwirrung bei der Enkelin und lassen sie wie gelähmt verstummen. Denn die Rolle der still Ertragenden wurde Malvina bereits in ihrer Kindheit auferlegt: Seit sie sechs Jahre alt ist, sieht sie sich den sexuellen Übergriffen ihres Großvaters ausgesetzt.
In ihrem Debütroman „Rotkäppchen muss weinen“ beschäftigt sich Beate Teresa Hanika mit dem diffizilen Thema des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Behutsam und doch klar spricht sie viele Dinge an, ohne sie auszusprechen, und demaskiert nach und nach das Bild großelterlicher und familiärer Idylle. Wie kann eine ganze Familie die Augen verschließen, wenn ein Kind jahrelang missbraucht wird? Die in Rückblenden langsam aufgebaute Skizze der familiären Strukturen um Malvina reiht Hinweis an Hinweis und veranschaulicht schonungslos das Versagen verantwortlicher, erwachsener Instanzen. Malvinas Vater wird als patriarchalisches Familienoberhaupt charakterisiert, dessen Überforderung sich in seinem gefühlskalten Verhalten widerspiegelt. Malvinas Mutter verschließt die Augen, verliert sich in Migräne-Attacken und gibt jegliche Verantwortung an den Rest ihrer Familie ab. Mit Malvinas verstorbener Großmutter entwickelt Hanika die wohl ambivalenteste Figur des Romans. Beschützt sie Malvina zunächst noch vor den Ausbrüchen des oft alkoholisierten Großvaters, instrumentalisiert sie das kleine Mädchen nach und nach aus ihrer eigenen Ohnmacht heraus als Mittel, den Großvater milde zu stimmen. Ihre Mittäterrolle gipfelt in der Versicherung, die sie ihrer Enkelin am Sterbebett abnimmt: „Versprich mir, dass du den Opa nicht im Stich lässt.“ In Malvinas kindlichen Ohren klingen all die subtilen Schuldzuweisungen des Großvaters, sie trage Mitschuld am Tod der Oma, lange Zeit glaubwürdig. Er nutzt ihr naives Weltbild aus, um sie zum Schweigen zu bringen. Doch Malvina ist kein Kind mehr. Im Gegenteil; sie fühlt sich ihrer Kindheit beraubt, ihr Leben ist voller ‚blinder Flecken’, und mit jedem Tag, an dem ihre Wut wächst, wird das Schweigen unerträglicher.
Die Entscheidung Hanikas, den Roman aus Malvinas Perspektive zu erzählen, ermöglicht es der Protagonistin, zu entscheiden, in welcher Direktheit und in welchem Tempo sie den Leser an ihr Leben heranführt. Wie Malvina ihren Großvater voller Abscheu mit allen Sinnen wahrnimmt, vermittelt die Autorin in plastischen Bildern. So gelingt es Hanika, eine manchmal fast unerträgliche Nähe zu den Empfindungen ihrer Figur aufzubauen, ohne dabei das Gespür zu verlieren, in welchen Momenten der Leser Entlastung benötigt. Diesem ‚Durchatmen’ dient zum einen die Erinnerung an vergangene Sommererlebnisse mit der besten Freundin Lizzy, in besonderem Maße aber auch die sensible Entwicklungsgeschichte der Beziehung zwischen Malvina und Klatsche, einem Jungen aus Malvinas Nachbarschaft. Sein behutsames und doch hartnäckiges Interesse an der verschlossenen und oftmals zurückweisenden Person Malvinas spenden ihr Mut und Kraft, sich Stück für Stück aus dem jahrelangen Schweigen herauszutrauen. Auch die lebenserfahrene polnische Nachbarin des Großvaters kann nach und nach Malvinas Vertrauen gewinnen. Sie ist die Einzige, die ahnt, was dem stillen Mädchen während der Besuche bei ihrem Großvater widerfährt, und die ihr schließlich hilft alles, alles zu erzählen.
„Rotkäppchen muss weinen“ – Ein Titel, der Bezüge zu Motiven des Grimmschen Märchen herstellt und zugleich eine weitere Verstehensebene öffnet. Der Wolf, als ‚böses’ Element im Märchen, weist in seinem subtilen Charakter Ähnlichkeiten zu den Wesenszügen der Großvaterfigur auf. Mutter und Großmutter, die im Märchen die sorgenden Instanzen darstellen, fügen sich in Hanikas Roman demütig in ihr Schicksal und versagen in ihrer Funktion, Verantwortung zu übernehmen. Im Märchen gewinnt am Ende das Gute. Doch Hanikas Roman hat mit einem Märchen nichts zu tun. Die Autorin entwirft in ihrem Werk keine Scheinwelten, sondern hält dem Leser das Bild einer schmerzhaften Realität vor Augen. Malvina ist durch ihre Erfahrungen gezeichnet. Und doch gewinnt auch sie am Ende des Romans, denn sie hat gelernt, sich zu wehren. Ihr Epilog verdeutlicht, dass ihr Mut sie stark gemacht hat und dass sie trotz des Versagens familiärer Instanzen von vielen Personen aufgefangen worden ist.
Ein Roman, so zart geschrieben und so bitter im Nachgeschmack. „Rotkäppchen muss weinen“ wurde im Jahr 2007 mit dem renommierten Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnet. Zu Recht!