Engström, Mikael: Ihr kriegt mich nicht!
Jenseits von Nangijala
von Teresa Köcher und Benedikt Diegmann (2009)
Für seine elf Jahre hat Mik schon viel mitgemacht – seine Mutter ist tot, sein Vater ein Alkoholiker und unfähig, für sich, geschweige denn für Mik zu sorgen. Nur sein fünf Jahre älterer Bruder Tony, der durch Diebstähle sein Leben finanziert, zeigt sich Mik gegenüber fürsorglich.
Die häusliche Situation spitzt sich fortlaufend zu. Oft ist Mik tagelang alleine und stillt seinen Hunger mit Schokolade. Als Tony schließlich von der Polizei abgeführt wird und sein Vater volltrunken am Boden liegt, trifft das Sozialamt eine Entscheidung: Mik soll, gegen seinen Willen, in dem kleinen Städtchen Selet in Nordschweden bei Lena, der Schwester seines Vaters, untergebracht werden. Er verliert seine wichtigste Bezugsperson – Tony. Selet wirkt auf Mik zunächst wie ein entlegenes Nest voller „komischer Menschen“, „wo alle verrückt zu sein“ scheinen. Doch zunehmend entfaltet es für ihn seinen Zauber. Die idyllische Naturlandschaft, die Aufnahme in den neuen Freundeskreis, in dem er die faszinierende Pi kennenlernt, und die häusliche Wärme, die er bei Lena erfährt, tragen dazu bei, dass sich Mik schon bald zu Hause fühlt.
Aber das Sozialamt hat Anderes für Mik in Aussicht. Dort sucht man nach einer geeigneten Pflegefamilie für ihn – und findet sie. Ab diesem Zeitpunkt beginnt Miks Flucht vor dem für ihn unverständlichen Gesetz, „dem Paragraphen“, mit dem man ihm erneut sein Zuhause nehmen will. Aber er ist fest entschlossen: „Ihr kriegt mich nicht!“
Der Leser begleitet Mik durch die einzelnen Stationen eines bewegenden Lebensabschnitts. Die Odyssee, die er durchlebt, verändert ihn. So ungewöhnlich Miks Verhalten anfänglich wirkt, gewinnt er doch mit jeder Herausforderung, die er bewältigen muss, an Reife. Zum Ende der Geschichte hin begegnet der Leser einem selbstbestimmten und unbeirrbaren jungen Menschen. Der Autor Mikael Engström kontrastiert die widrigen äußeren Umstände in Miks Leben mit dessen ausdrucksstark beschriebenem Innenleben. Wenn ihn beispielsweise die „Schlange der Einsamkeit“ überkommt, wird das Mitgefühl des Lesers entfesselt. Hierdurch wird dieser so in den Bann gezogen, dass er mit Mik jegliche Hürde überwindet und einem erfolgreichen Ausgang der Flucht entgegenfiebert.
Gesellschaftliche Problemfelder wie Alkoholismus, Vernachlässigung, aber auch die Inobhutnahme werden aus der Perspektive Miks, dessen Leben dadurch geprägt ist, dargestellt. Dies ermöglicht es dem Leser, indem zumeist einer Stereotypisierung entgangen wird, einen Blick hinter die Fassade von Verhaltensweisen zu werfen und sie besser zu verstehen.
Astrid Lindgrens Geschichte der Brüder Löwenherz dient Mik als geistiger Zufluchtsort. Immer wieder bezieht er seine Realität auf die Ereignisse in dieser Erzählung. Dabei erinnert Mik stark an Krümel, den Protagonisten der Lindgren-Geschichten. Dieser führt mit seinem großen Bruder Jonathan den unerbittlichen Kampf gegen Tengil, der durch seine diktatorischen Gesetze die Freiheit der in Nangijala Lebenden raubt.
Mikael Engström gelingt es, die oftmals tragisch-komisch wirkenden Momente in Miks Leben so anschaulich darzustellen, dass sich der Leser selbst an die Orte des Geschehens versetzt fühlt. Diese Bildlichkeit bleibt auch dank Birgitta Kicherers großartiger Übersetzung erhalten. Durch das Herausheben einzelner Eigenarten werden die Figuren besonders plastisch charakterisiert, wie zum Beispiel die Brüder Bertil und Bengt, zwei kauzige Dorfbewohner von Selet. Engström bedient sich unterschiedlicher Erzählstile: Er nutzt die Form beobachtender Beschreibung, aber auch die Briefform, als Mik beginnt, seinem Bruder zu schreiben, sowie Tagebucheinträge, nachdem Mik von Lena ein Tagebuch geschenkt bekommen hat.
Ebenso wie Mik, für den er seinen eigenen Vornamen wählte, stammt Engström aus Solna. Er wurde 2004 mit seinem Roman „Brando“ für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Für „Ihr kriegt mich nicht!“ erhielt er 2008 abermals eine Auszeichnung, die Nils-Holgersson-Plakette. Mit seinem Umfang von 268 Seiten stellt der Roman zwar möglicherweise eine Herausforderung für ungeübte Leser dar, dafür bereichern aber die stetige Spannungssteigerung und die sympathischen Figuren das Leseerleben.