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Titelbild
Rosoff, Meg:
Damals, das Meer
Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit
Hamburg: Carlsen 2009
237 Seiten
€ 14, 90
Jugendbuch ab 12 Jahren

Rosoff, Meg: Damals, das Meer

Stille Wasser sind tief

von Johanna Gerber und Stephan Meier (2009)

Zwei Schulverweise, desinteressierte und kaltherzige Eltern, ein Jungeninternat, welches als letzte Station sowohl für gescheiterte Schüler als auch für unmotivierte Lehrer gilt und schon durch seine kalten Mauern und das miserable Essen etwas Abstoßendes hat – und mittendrin ein heranwachsender Junge. Ein Junge, der scheinbar ziellos und gleichgültig sein Dasein fristet, immer darauf bedacht, die unausgesprochenen Regeln der Internatsgemeinschaft einzuhalten, um das zu bekommen, was er sucht: Ruhe.

Das, was die amerikanische, in London lebende Autorin Meg Rosoff unter dem beschaulich klingenden Titel der deutschen Übersetzung „Damals, das Meer“ versteckt, entpuppt sich als ein einfühlsamer und ganz und gar überraschender Roman, den man so zunächst nicht vermutet und der noch lange nachwirkt.

Rosoff erzählt die Geschichte des sechzehnjährigen Internatsschülers Hilary und seiner Freundschaft zu dem etwa gleichaltrigen Finn. Dieser lebt ganz allein und auf sich gestellt, einsam und nicht weit vom Internat St. Oswald in einer kleinen Fischerhütte direkt an der Küste. Der Kontrast zwischen den beiden Hauptfiguren und deren Lebensumwelt könnte nicht größer sein. Auf der einen Seite die trostlose, karge und spartanische Welt des Internatsjungen, der die Rolle des rebellierenden Jugendlichen in einer spießigen Umwelt gibt, auf der anderen Seite der auf sich gestellte, außerhalb der sozialen Ordnung lebende Naturbursche Finn, der auf seine anmutige, kompetente Art mit sich und dem rauen Meer eins wird.

Alles, was Hilary sich wünscht zu sein, nämlich unabhängig, selbständig und frei von sinnlosen Regeln, verkörpert dieser Junge, der ihn fasziniert. Um Finn zu treffen, mit ihm die Zeit zu verbringen, so zu werden wie er, muss Rosoffs Protagonist komplizierte Ausflüchte finden, um nicht nur den Regeln des Internats, sondern auch Reese zu entkommen, seinem allzu anhänglichen Zimmergenossen und Alter Ego. In Finn entdeckt Hilary sein eigenes Wunsch-Ich: „Er kam mir unglaublich vertraut vor, wie eine Traumausgabe von mir selbst, mit genau dem Gesicht, von dem ich mir immer gewünscht hatte, es würde mich aus dem Spiegel ansehen. Seine helle, schimmernde Haut erinnerte an die Meeresoberfläche. Er war fast schon unerträglich schön, und ich musste mich abwenden, völlig überwältigt von Freude und Sehnsucht und der Erkenntnis, wie schrecklich ungerecht doch das Leben war.“ (S. 25)

Hilary verliert sich immer mehr darin, so zu werden wie sein in allen Belangen überlegenes Vorbild. Dass es die Liebe ist, die ihn zu Finn hinzieht, „das wusste ich damals nicht“. Doch Finn macht es Hilary durch seine nach außen zur Schau getragene Gleichgültigkeit und seine undurchschaubare Art auch nicht leicht, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Bei ihren zahlreichen Treffen schwingt immer eine Ungewissheit mit, was Finn eigentlich denkt und fühlt, das Empfinden, ihm ausgeliefert zu sein. Und dass Finn ein Geheimnis in sich trägt, das die ganze Beziehung der beiden Jungen auf den Kopf stellt, entdeckt Hilary erst, als alles bereits zu spät ist.

Getrieben von Harmoniebedürfnissen und dem Gedanken, ein vergleichbares Leben wie Finn führen zu können, steuert Hilary den Freund, seinen Kameraden Reese und sich selbst unbeabsichtigt in eine Katastrophe .

Erzählt wird diese düster daherkommende Geschichte aus der Rückschau. Der fast hundertjährige Erzähler (Hilary) versetzt sich ins Jahr 1962 zurück, in die Zeit, in der geschah, was ihn für sein Leben prägte. Meg Rosoff erschafft genau wie in ihrem Debütroman „So lebe ich jetzt“ (dt. 2005) eine bedrückende Fremde, in der sich die Hauptperson der Handlung wiederfindet. Die Gefühle und Gedanken Hilarys werden auf eine so genaue und derart stimmungsvolle Art wiedergegeben, dass man das Gefühl hat, tief in sein Inneres sehen zu können.

Auch wenn man die Handlung oftmals als wenig fortschreitend empfinden mag, so fesselt einen das Werk doch insbesondere durch faszinierende Naturmetaphern. Rosoff schafft es damit nicht nur, einen hervorragenden Eindruck der Landschaftsszenerie und der Naturgewalten zu geben, sondern spiegelt darin auch Hilarys Gefühle. Das Meer, welches über alles und jeden, auch über die homoerotisch gefärbte Freundschaft der beiden Protagonisten, bestimmt, vermittelt ein eindrucksvolles Bild der verrinnenden Zeit.

Mit „Damals, das Meer“ hat Meg Rosoff ein anspruchsvolles und kunstvolles Werk geschaffen, das den Ich-Findungsprozess eines Pubertierenden in kraftvolle Bilder fasst und für jugendliche Leserinnen und Leser eine echte Herausforderung, aber auch eine Bereicherung darstellt. Der Roman verlangt ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und kann vielleicht erst nach dem zweiten Lesen richtig auf den Leser wirken.

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