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Die Kraft der Erinnerung

Von Marie Carina Froesch und Rafaela Batlle Zadow (2023)

Bei dem Generationenroman „Kai zieht in den Krieg und kommt mit Opa zurück“ von Zoran Drvenkar handelt es sich durchaus um harten Tobak. Es dauert zunächst eine Zeit, bis man sich in die Handlung eingefunden hat, aber schließlich verfehlt der Roman seine aufrüttelnde Wirkung nicht. Drvenkar schafft durch einen verschachtelten Handlungsverlauf so lange Verwirrung, bis man sich als Leser*in kaum mehr entziehen kann.

Wie der Titel schon andeutet, geht es in dem Roman um den elfjährigen Kai und seinen hundertjährigen, an Demenz erkrankten Großvater. Der Roman beginnt mit einer Szene, in der Kai von seinem Großvater gefesselt wird, weil er ihn fälschlicherweise für einen Einbrecher hält. Dies macht deutlich, wie weit fortgeschritten die Demenz von Kais Großvater bereits ist. Kai startet nun eine Art Offensive gegen die Krankheit, indem er sich mit seinem Großvater auf eine Erinnerungsreise in dessen Vergangenheit begibt. Und diese Vergangenheit hat es in sich, denn schließlich ist Kais Großvater ein Kriegsheld – das glaubt jedenfalls Kai, bis sich herausstellt, dass die Erinnerungen an den Krieg, die sein Großvater mit Kai geteilt hat, nicht ‚ganz‘ der Wahrheit entsprechen. Kai erkennt mit der Zeit, dass sein Großvater kein Kriegsheld ist, sondern dass er unter anderem im Gefangenenlager war und traumatisiert von den Kriegsereignissen und seinen eigenen Verstrickungen in diese Ereignisse zurückgekehrt ist.

Die einzelnen Erinnerungen, die Kai und sein Großvater in diesem fantastischen Setting gemeinsam neu erleben, werden in der Erzählung des Großvaters immer mehr der Wahrheit angepasst. So wird Kais Erinnerungsreise, die eigentlich dazu gedacht war, seinen Großvater an seine Identität zu erinnern, auch zu einer Reise, die Kai die wirkliche Identität seines Großvaters näherbringt und die Beweggründe seines Handelns erläutert. Sein unerschütterlicher Glaube an den Großvater führt dazu, dass Kai über sein eigenes elfjähriges Ich hinauswächst und erkennt, dass kein Mensch perfekt ist und auch sein geliebter Großvater es niemals war.

Drvenkar gelingt es, dass die Leser*innen sich mit unbequemen Wahrheiten auseinandersetzen und sich Gedanken um die eigene Vergangenheit machen, er thematisiert, was sich kein Mensch gerne eingestehen möchte: die eigene Fehlbarkeit. Zwar ist der Stoff dieses Romans keine ganz leichte Kost, aber mit etwas Hilfe und Zeit können schon Kinder ab zwölf Jahren den Inhalt verstehen und verarbeiten, auch weil die Handlung an manchen Stellen humorvoll, immer jedoch mit der nötigen Sorgfalt erzählt wird. Außerdem warnt Drvenkar die Leser*innen an drei Stellen vor brutaleren Szenen. Zugleich ist der Roman auch für Erwachsene geeignet, da er sich überzeugend mit Themen wie Krieg, Freundschaft und dem Altwerden auseinandersetzt.

 

Bibliographische Angaben:

Zoran Drvenkar
Kai zieht in den Krieg und kommt mit Opa zurück
München: Hanser Verlag (2023)
159 Seiten
ab 12 Jahren

 

Leseprobe:

In den Nächten liegt Kai neben seinem Großvater und schaut in den funkelnden Sternenhimmel. Manchmal schaut er auch auf Opas Handy und wundert sich, wie die Zeit so langsam und zugleich so schnell verstreichen kann – seit dem Anruf seiner Mutter sind auf dem Handy 16 Minuten vergangen. Kai kann nicht sagen, wie lange sie sich schon in dem Gefangenenlager befinden, er weiß nur, es sind garantiert mehr als 16 Minuten. Und obwohl er das weiß, weigert er sich, auf seine Uhr zu schauen. Kai fürchtet sich davor, dass die eine Zeit die andere Zeit geraderückt und Opa und er dann für immer in diesem Lager bleiben müssen. Sein letzter Gedanke vor dem Einschlafen ist immer derselbe. Es ist ein Wunsch, der erst langsam und dann immer schneller zu den Sternen aufsteigt und sich im Nichts verliert. Bald muss was passieren, denkt Kai. Und dann passiert es.