Eine Meerjungfrau zwischen Disneyfilm und Bilderbuch – Gefangen zwischen Interpretation und Illustration
von Anna-Lena Claßen, Lara Felder und Sophie Paetzold (2023)
In einer großen, dunkelblauen, von Neonpink durchzogenen Wasserwelt, wünscht sich die kleine Meerjungfrau nichts sehnlicher, als zum Menschen zu werden, um an Land die Liebe des Prinzen für sich gewinnen zu können. – Wer kennt es nicht, das berühmte Kunstmärchen von Hans Christian Andersen? Und aufgrund der Neuverfilmung durch den Disney-Konzern ist die Geschichte auch wieder in aller Munde, auch wenn es dabei nicht immer um das Märchen an sich geht… Abseits von diesem ‚kulturkämpferischen Getümmel‘ ist beinahe zeitgleich auch eine Bilderbuchadaption durch den französischen Illustrator Benjamin Lacombe erschienen, die sich zu lesen und zu betrachten lohnt.
Denn die anschaulichen Illustrationen von Benjamin Lacombe interpretieren die Gefühle der berühmten Figur von Hans Christian Andersen auf eine neue Art und Weise und machen die Geschichte der kleinen Meerjungfrau u.a. anschlussfähig für Fragen nach der Geschlechtsidentität eines ‚Menschen‘. Störend fallen dabei allerdings Differenzen zwischen den im Text beschriebenen Situationen und den illustrierten Szenarien auf: So besitzt die kleine Meerjungfrau bereits Beine bevor sie überhaupt an Land geht und das Haar ihrer Schwestern erscheint trotz Opfergabe immer noch genau so lang wie vorher. Nichtsdestotrotz ziehen die großen und anschaulichen Illustrationen den Blick der Leser*innen an. Die aquarellartige Gestaltung der Land- und Wasserwelt besticht durch ihre reichen Farben und eine detaillierte Ausarbeitung, welche durch das Hochglanzformat des Werkes umso mehr zur Geltung kommt.
Mit Blick auf den Inhalt könnten allerdings Unschlüssigkeit in Bezug auf die Zielgruppe entstehen. Zumindest die jüngeren Leser*innen werden sich eventuell vor manchen Illustrationen gruseln. Dafür warten Vor- und Nachwort mit vielen Information zum Text und dessen Genese auf und stellen auch ein von Andersen verfasstes alternatives Ende der Geschichte zur Diskussion.
Löst man sich von solchen ‚pädagogischen Erwartungshaltungen‘, so bleibt die Geschichte eine schöne, wenn auch sehr teure, markant illustrierte Version eines bekannten Klassikers über Liebe, Sehnsucht und die eigene Identität – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Bibliographische Angaben:
Andersen , Hans Christian und Lacombe, Benjamin (Illustrationen)
Die kleine Meerjungfrau
Berlin: Jacoby Stuart 2023
75 Seiten
ab 6 Jahren
Preis: 42 Euro
Leseprobe: S.20