Minelli, Michéle: Passiert es heute? Passiert es jetzt?
Familiendrama
von Julia Klocke, Simone Kurth, Sandra Kurk und Sanne Leyendecker (2018)
„Das Leben besteht aus lauter Momenten, die sich aneinanderreihen. Was von einem zum nächsten führt, lässt sich im Nachhinein kaum sagen. Es ist wie eine Abfolge von Tönen, die eine Melodie ergeben. Manchmal wohlklingend, manchmal nicht.“
Bruchstückartig setzt sich zusammen, wie perfekt Wolfgang Brass‘ Leben zu sein scheint: Neu in der Stadt integriert er sich schnell, die Familie ist beliebt im Ort. In der Schule bereiten ihm besonders Musik und Deutsch große Freude. Seine ganze Familie ist gläubig und geht gerne in die Kirche. Doch irgendwann ändert sich etwas: Die Besuche von Freund*innen bleiben aus, selbst Verwandte kommen nur noch selten zu Besuch. Nachbar*innen und selbst Mitglieder der Kirchengemeinde meiden die Familie zusehends.
An Wolfgangs sechzehntem Geburtstag geschieht dann etwas, das niemand für möglich gehalten hätte. Daraufhin findet Wolfgang sich in der geschlossenen Psychiatrie wieder. Der Psychologe Steiner ist der erste, der zu Wolfgang durchdringt und dem Wolfgang erzählt, was wirklich geschehen ist. Seine Erzählungen kreisen dabei immer um die Frage „Passiert es heute? Passiert es jetzt?“, die sich wie ein roter Faden durch die Erzählung zieht und auf eine Antwort hofft.
Wolfgangs assoziative Schilderungen sind für die Leser*innen dabei kaum greifbar; Wolfgang steht unter Schock, nur langsam kann er seine Gedanken sortieren, sich überhaupt erinnern. Und mehr als das erfährt auch die Leser*in zunächst nicht. Minelli gibt ihrem Protagonisten dabei eine Sprache, die Abbild ist für seine Erfahrungen, aber auch seine Leidenschaften und seine Reife. Und so gelingt es Minelli, eine Figur zu zeichnen, die sich der Leser*in über das enge Zusammenspiel dessen ergibt, wie Wolfgang und was er erzählt.
„Passiert es heute? Passiert es jetzt?“ erzählt nicht nur von einem Familiendrama, einem jungen Menschen, der zu früh erwachsen sein muss, daran zerbricht und wieder aufsteht. Es ist auch ein Roman, der zeigt, wie tief uns Sprache in die erzählte Welt eintauchen lassen kann.