Faye, Gaël: Kleines Land
Kleines Land, tiefe Risse
von Eva-Maria Joester, Giuliana Kossatz, Jessica Leon und Simon Stein (2018)
„Die Menschen in dieser Gegend waren wie die Erde. Hinter scheinbarer Ruhe, einer lächelnden Fassade und großen, optimistischen Reden waren ständig dunkle, unterirdische Kräfte am Werk, um Gewalt und Zerstörung freizusetzen, die in wiederkehrenden Perioden durchs Land fegten wie tückische Winde: 1965, 1972, 1988. Ein böser Geist schaute regelmäßig vorbei, um die Menschen daran zu erinnern, dass Friede nur ein kleines Intervall zwischen zwei Kriegen ist. Diese giftige Lava, die breiten Blutströme sollten bald wieder an die Oberfläche quellen. Wir wussten es noch nicht, aber die Zeit des Infernos war gekommen, und die Nacht ließ das Rudel der Hyänen und Wildhunde los.“ (Faye 2017, S. 116f.)
In seinem Adoleszenzroman „Kleines Land“ beschreibt Gaël Faye aus der Rückschau des erwachsenen Ich-Erzählers Gabriel, der mittlerweile in Frankreich lebt, wie die Alltagswelt seines Heimatlandes Burundi durch den auflodernden Bürgerkrieg tiefe Risse bekommt und die mit diesem ethnischen Krieg einhergehende physische Vernichtung oder tiefgreifende psychische Verstörung der Menschen in seinem privaten und sozialen Umfeld.
Während des bereits schwelenden ethno-politischen Konflikts zwischen Hutu und Tutsi, verlebt der junge Gabriel, als Sohn eines französischen Vaters und einer ruandischen Mutter, eine recht privilegierte Kindheit in Burundis Hauptstadt Bujumbura. Gemeinsam mit seinen Freunden verbringt er die Tage damit, Nachbarn Streiche zu spielen, Schwimmen zu gehen oder in einem alten VW Bus ‚abzuhängen‘. Beginnend mit der Trennung seiner Eltern, geraten die Zustände jedoch zunächst im Privaten ins Wanken. Als dann schließlich der Bürgerkrieg auch für die Freunde zur unausweichlichen Realität wird, und der Völkermord auf den Straßen Bujumburas stattfindet, müssen sie sich entscheiden, entweder zur Kalaschnikow zu greifen oder weiter ‚die Mangos ihrer Kindheit zu pflücken‘, wobei der Krieg sie vor immer ernstere Herausforderungen stellt.
Mit „Kleines Land“ stellt der französische Musiker und Autor Gaël Faye seinen ersten Roman vor, der autobiographisch durch Skizzen einer eigenen Jugend in Burundi grundiert ist. Faye vermag es, den Alltag aus der Perspektive eines Heranwachsenden in bunten und lebhaften Bildern zu vermitteln. Die knappen Sätze, die eingängige Sprache und der Straßenjargon der Freunde wirken dabei ‚authentisch‘, die zahlreichen literarischen Referenzen reichern die Lektüre sinnerweiternd an.
„Kleines Land“ ist insgesamt ein sehr lesenswerter und lehrreicher Roman, der aufgrund der Schilderung der rohen Bürgerkriegsszenerie erst für Leser*innen ab in etwa 16 Jahren zu empfehlen ist. Es ist dabei maßgeblich die Erzählperspektive eines Jugendlichen, der abrupt erwachsen werden muss, die einen unverstellten und eindringlichen Blick auf ein Leben in komplexen Konfliktlagen wirft, die abstrakte Frage nach Schuld und Verantwortung plausibel an einem persönlichen Schicksal festmacht und die anschlussfähig ist für den aktuellen Diskurs um Flucht, Vertreibung und Migration.