Kaldhol, Marit: Zweet
Apis Mellifera – Die Königin ohne Untertanen
von Madina, Balde, Alexandra Rabold und Marie Spies (2018)
Was machst du, wenn ein Alarm in der Schule losgeht? Würdest du mit den anderen nach draußen gehen? Oder würdest du dich aus Angst verstecken?
Die Hauptfigur Lill-Miriam aus Marit Kaldhols Roman „Zweet“ entscheidet sich für die zweite Variante: Als in der Schule ein Alarm ertönt, flüchtet sie und versteckt sich auf dem Dachboden der Schule. Was tatsächlich Evakuierungshelfer*innen sind, wirkt auf sie bedrohlich, wie Terrorist*innen oder Entführer*innen. Zur Beruhigung zieht Lill-Miriam sich gedanklich in die Welt der Bienen und Insekten zurück, da diese ihr durch die dort herrschende Ordnung Halt und Struktur geben:
„‚Hallo, apis mellifera.‘
Das Bild der Honigbiene ist der Desktophintergrund
meines PCs. Es erscheint immer, wenn ich den
Computer hochfahre.
Seit exakt einem Jahr, sieben Monaten
und fünf Tagen.
Sie sitzt auf einem Strauß weißer Lilien.
Das weiße Bild wäre jetzt gut. Weiß wirkt
beruhigend auf mich.“
Doch während sie sich auf dem Dachboden in Sicherheit wiegt, ist sie tatsächlich von einer tödlichen Wolke Giftgas umgeben.
Eine andere Perspektive bietet das zweite Kapitel des Romans, in dem Susan, eine Klassenkameradin, zu Wort kommt. Sie gehört zu einer Gruppe Mädchen, die Lill-Miriam gemobbt und beinahe ertränkt haben. Susan ist eine Mitläuferin, obwohl sie sich der Falschheit ihrer Handlungen bewusst ist. Seitdem Lill-Miriam fast gestorben wäre, plagt Susan ihr schlechtes Gewissen und sie macht sich bei Lill-Miriams Verschwinden Sorgen um diese.
Im dritten Kapitel des Buches lernen die Leser*innen Ruben kennen. Ähnlich wie die Protagonistin kann er keinen Fuß in der Klasse fassen, seit er aus Kuba nach Norwegen gekommen ist. Durch einen Zufall rettete er Lill-Miriam vor dem Ertrinken und verbringt anschließend viel Zeit mit ihr. Sie erzählt ihm von Insekten, er ihr von Kuba. Ruben ist fasziniert von Lill-Miriams Art und ihrer Begeisterung für Bienen und Insekten:
„Als ich dich gefragt habe, ob ich dich
einfach Miriam nennen darf, nicht Lill-Miriam, ging eine
Wandlung in deinem Gesicht vor.
Du hast gelächelt und ich habe zum ersten Mal deine
weißen Zähne gesehen.“
Die drei verschiedenen Perspektiven setzten sich im Verlauf des Romans zu einer Geschichte zusammen, wobei den Leser*innen viel Interpretationsspielraum gelassen wird. Durch die Ich-Perspektiven, die teilweise gebrochene Satzstruktur in Form rhythmischer Prosa, durch Fußnoten und kurze (Ab-)Sätze werden die Gedanken der drei Figuren individuell unterschiedlich, aber immer ästhetisch (anspruchsvoll) umgesetzt. Dadurch entsteht der Eindruck, dass Lill-Miriam, Susan und Ruben tatsächlich mit verschiedenen Stimmen sprechen. Durch diesen nicht ganz einfachen Zugang hebt sich Kaldhols „Zweet“ von anderen jugendliterarischen Werken ab, was die Lesefreude allerdings nicht mindert.