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Keun, Irmgard:
Kind aller Länder. Roman
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2016
EA 1938
221 Seiten
€ 17,99
E-Book: € 15,99
Junge Erwachsene

Keun, Irmgard: Kind aller Länder

Heimweh – Was ist das?

von Tamara Böhr, Annika Kulz, Elena Press und Saskia Steingrübl (2017)

Die Kölner Schriftstellerin Irmgard Keun gilt als eine der bekanntesten Autorinnen der Weimarer Republik und der Neuen Sachlichkeit. Da die in ihren Romanen beschriebenen Frauenfiguren jedoch nicht der nationalsozialistischen Ideologie entsprachen, wurden ihre Werke beschlagnahmt, auf die sogenannte schwarze Liste gesetzt und anschließend verbrannt. Zu diesen Büchern gehörten hochgelobte Bestseller, wie „Gilgi – eine von uns“ (1931) und „Das kunstseidene Mädchen“ (1932). Es wird also deutlich, wie sehr der berufliche Erfolg Irmgard Keuns im Nationalsozialismus litt. In den 1970er und -80er Jahren erlebten Keuns Werke im Zuge der Frauenbewegung eine Renaissance; diese Bekanntheit ebbt allerdings seit der Jahrtausendwende schon wieder ab. Ein Grund mehr, „Kind aller Länder“ im Rahmen des Projekts „Eine Uni – Ein Buch: Köln liest Keun“ an der Universität zu Köln neu zu lesen. „Kind aller Länder“ zeigt durch Themen wie Flucht, Exil und Fremdheit in besonderer Weise die Aktualität von Keuns Werk, denn der Roman ist anschlussfähig an den heutigen Diskurs über Flüchtlinge und Migration und vermag, Empathie für Geflüchtete zu erwecken, sekundiert durch die Frage nach weiblichen Identitätsfindungsprozessen.

„Kind aller Länder“ thematisiert das Leben der zehnjährigen Kully, das geprägt ist von Rastlosigkeit, Geldsorgen der Eltern und der Ungewissheit darüber, wo sich die Mitglieder der Familie im nächsten Augenblick aufhalten werden, denn Ankunft bedeutet für die Familie gleichzeitig Aufbruch: „Glücklich sind wir eigentlich immer nur, wenn wir im Zug sitzen.“ Die Frage danach, was für Kully ‚Heimat‘ bedeutet, bleibt ungeklärt. Dabei erzählt sie aus ihrer Ich-Perspektive mit der scheinbaren Sorglosigkeit und Naivität eines zehnjährigen Mädchens. Es bieten sich – im Stil eines Picaro-Romans – durch die Reduktion komplexer Probleme auf ihren kindlichen Wissenshorizont immer wieder verblüffend einfache Sichtweisen auf komplexe Geschehnisse: „Früher in Deutschland war ich in der Schule […]. Dann wollte mein Vater nicht mehr in Deutschland sein, weil […] er nicht mehr sprechen und schreiben durfte, was er wollte. Warum lernen denn dann die Kinder in Deutschland eigentlich noch sprechen und schreiben?"

Darüber hinaus entfaltet „Kind aller Länder“ nicht nur eine exemplarische Geschichte einer Kindheit im Exil, sondern erinnert auch stark an das Autorinnenleben Irmgard Keuns, an Erfahrungen und Erlebnisse, die sich teilweise biographisch einordnen lassen. Am deutlichsten jedoch spiegelt sich dies in der Romanfigur des Vaters wider.

Abschließend ist zu sagen, dass Irmgard Keuns humorvolle, situationskomische und scheinbar kindlich-unbeschwerte Art zu schreiben es einerseits auch jungen Leser*innen ermöglicht, einen Blick auf die Lebensumstände und Gefühle der Protagonist*innen zu erhalten. Um jedoch die gesamten Auswirkungen eines Exillebens zwischen den Zeilen lesen zu können, bedarf es eines deutlich umfangreicheren historischen und auch literarischen Wissens, als es bei Kindern vorauszusetzen ist. Außerdem ist die Unterscheidung zwischen der vorgeblich naiv-kindlichen Sichtweise der Erzählerinnenkommentare und der impliziten, sich an Erwachsene richtenden politischen Kritik voraussetzungsvoll. Deshalb bleibt „Kind aller Länder“ auch 2017 ein Kinderbuch, das sich eigentlich an Erwachsene richtet.

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