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Robert M. Sonntag (d. i. Martin Schäuble):
Die Scanner
Frankfurt a.M.: Fischer KJB 2013 (Die Bücher mit dem blauen Band)
190 Seiten
€ 12,99
Kindle Edition: € 10,99
Jugendbuch ab 14 Jahren

Sonntag, Robert M.  (d. i. Martin Schäuble): Die Scanner

Bücher sind Macht

von Sandra Salwiczek (2013)


„Klick. Vergiss das Geräusch! 2035 hat es sich ausgeklickt. Mzzzp. So klingt die Zukunft. So klingt alles. Ganz besonders 2035, im Juli.“

Die Stadt, in der Robert, genannt Rob, wohnt, ist in drei Zonen unterteilt. In der A-Zone leben Menschen, die Arbeit besitzen und in einem gewissen Wohlstand leben. Doch der soziale Abstieg in die B-Zone ist bei Verlust des Arbeitsplatzes jederzeit möglich. In der C-Zone hingegen befinden sich diejenigen, die in die kapitalistische Welt nicht mehr hineinpassen: Alte und kranke Menschen – und auch jene Wenigen, die sich dem System widersetzen. Wer „minderwertiges Humankapital“ darstellt, wird dorthin ‚entsorgt‘.

Das Leben in dieser Zukunft wird von Technik bestimmt. Stets präsent sind Datenbrillen, sogenannte Mobrils, die beinahe alle ständig tragen. Sie bieten den Menschen die Möglichkeit, virtuell am Leben ihrer ‚Freunde‘ teilzuhaben. Freundschaften werden kaum noch im ‚echten‘ Leben geschlossen, sie werden über das Mobril gekauft. Für solche Leistungen müssen die Besitzer jedoch viel zahlen – erschwinglich wird es, wenn man sich bereit erklärt, personalisierte Werbung zu schauen und sich über den Inhalt der Werbung prüfen zu lassen. Werden nicht genügend Fragen richtig beantwortet, droht eine Geldstrafe. Immer mit dem weltweiten Netz verbunden, werden die Menschen so zu ‚gläsernen‘ Gestalten, deren Leben jeder mitverfolgen kann. Nicht nur Freundschaften, auch Beziehungen verlagern sich immer mehr in die virtuelle Welt. Ultranetz, ein monopolistisch agierender Weltkonzern, stellt die Mobrils her, kontrolliert so das Leben der Menschen und erwirtschaftet daraus seinen Profit – und niemand scheint sich daran zu stören.

In dieser Welt arbeitet Robert als „Scanner“ für die Firma Scan AG, seit er sein Studium in „Altwissen“ abgebrochen hat. Nun scannt Robert Bücher, die sich noch im Umlauf befinden – und die anschließend zerstört werden. Angeblich soll das Scannen dazu dienen, das Wissen für alle verfügbar zu machen, doch an Literatur ist Robert eigentlich gar nicht interessiert: Von ständigen Geldsorgen geplagt, macht er sich zusammen mit seinem Freund Jojo auf die Jagd nach den wenigen verbliebenen Büchern. In der Regel sind die hohen Geldsummen, die sie prospektiven Verkäufern bieten, Überzeugung genug, die Bücher zu veräußern: „Manche Leser wollten so ein Buch nie verkaufen. Bis wir mit 20 Geldscheinen alle Prinzipien wegwischten. Wir bekamen alle. Fast alle. Einen von zehn, den konnten wir mit Geld nicht locken. Der hatte entweder schon genug davon, oder er war ein Fanatiker. Ein Büchernarr. Im schlimmsten Fall sogar ein Bibliophiler.“

Und dann treffen Robert und Jojo Arne, einen alten Mann, der so ganz anders ist als ihre bisherigen ‚Opfer‘. Dem alten Mann gelingt es, Robert eine Nachricht zu hinterlassen, dass er ihn gerne träfe, und Robert versteht nicht, warum Arne sich ausgerechnet an ihn gewendet hat. Als auf den Bibliophilen ein horrend hohes Kopfgeld ausgesetzt wird, begibt sich Robert zum Treffpunkt. Offenbar möchte er die Belohnung kassieren, doch irgendwie ist er auch fasziniert von der Schattenwelt, in der sich Arne bewegt: So erfährt Robert von der geheimen Büchergilde und deren Versuch, die verbliebenen Bücher zu retten. Zunächst sind die Ziele dieser Gilde für Robert kaum nachvollziehbar. Doch dann überschlagen sich die Ereignisse – und plötzlich ist Robert der Gesuchte. Auf seiner Flucht muss er einsehen, dass die Welt doch ganz anders ist, als er dachte …

Kurze Sätze, schnelle Dialogwechsel und ein hohes Erzähltempo führen zu einer Spannung, die auch durch die schnelle Aufeinanderfolge der Ereignisse aufrechterhalten wird. Vor allem in der Mitte des Buches überschlagen sich die Ereignisse, und Robert versucht verzweifelt zu verstehen. Der Ich-Erzähler rennt förmlich durch eine Zukunft, die durch genaue Schilderungen schnell vertraut wird. Sie scheint stellenweise auch nicht unwahrscheinlich – gerade die virtuelle Welt der Mobrils scheint ‚bloß‘ eine Weiterführung der sozialen Netzwerke unserer Zeit. Dieser Aktualitätsbezug wird dadurch verstärkt, dass die Geschichte in der zeitlich gar nicht so entfernten Welt von 2035 passiert. Dies regt zum Nachdenken über aktuelle Veränderungen im Bereich der Technik und den Umgang mit sozialen Medien an. Der Selbstmord eines Arbeitskollegen von Robs Vater wird zum Quotenhit: „Mein Freund Jojo hatte ein Mobril-Abo für die besten Filme auf Ultranetz. Mikes Suizid landete an diesem Vormittag auf Platz eins. Mehrere Stunden Mobril-Kommentare sammelten sich an. ‚Aua! Das tat sicher weh! Breites Grins‘, meinte Sabi-2009.“

Robert scheint sich in dieser Welt nicht wohlzufühlen. Mit seinem glattrasierten Schädel und seiner Datenbrille ist er zwar durchaus konform, und immerhin hat er auch „650 beste Freunde im Premium-Status“ – doch wirkt er trotzdem nicht glücklich. Im Gegensatz zu Jojo hat er noch nie mit der überall präsenten Droge Nador experimentiert. „Nador macht satt und glücklich , lautet[e] der Werbeslogan der Pharmafirma“, doch Robert teilt die Befürchtung der Kritiker, Nador mache „träge und doof“. Auch sein Interesse für das „Altwissen“ ist ungewöhnlich und scheint in dieser neuen Welt nicht mehr nützlich zu sein. Robert sehnt sich nach einer ‚echten‘ Freundin, für Jojos virtuelle Fernbeziehung hat er nur wenig Verständnis. Durch diese ‚Macken‘ ist Rob für die Büchergilde interessant.

Am Ende des Buches erfährt Robert seine Aufgabe im Widerstand: Er, der ‚Insider‘, soll seine Erlebnisse aufschreiben und verbreiten – und der Roman entpuppt sich im Nachhinein als das von Robert Geschriebene: Diese Konstruktion wird derart konsequent umgesetzt, dass Robert M. Sonntag auch als Autor angegeben ist. Dem Leser wird so suggeriert, das von Robert geschriebene Buch in den Händen zu halten. Dieser Eindruck von Authentizität wird durch die Aufmachung weiter verstärkt: So schmückt das Emblem der Büchergilde den Buchdeckel, dem Text nachgestellt ist eine Danksagung des fiktiven Autors, und auf dem Klappentext findet sich sogar seine Biografie. Es bedarf der Recherche, um den ‚echten‘ Autor herauszufinden: den Nahostexperten Martin Schäuble („Black Box Dschihad“). Dem Buch ist dies nicht zu entnehmen.

Der Ich-Erzähler lebt in einer dystopischen neuen Welt, die eine Vielzahl von Analogien zu Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ aufweist: Ist es dort die „Feuerwehr“, die Bücher verbrennt, sind im vorliegenden Jugendbuch die Scanner für die Vernichtung verantwortlich. Auch Robert Sonntags Name verweist auf den ‚Fahrenheit-Potagonisten‘: den „Feuerwehrmann“ Guy Montag. In beiden Büchern wird eine Gesellschaft kreiert, in der selbstständiges Denken systematisch unterdrückt wird. Die Menschen werden mit Medien abgelenkt und Bücher gelten als absolute Gefahr für die Konformität. Andere Bezüge, wie zum Beispiel die Modedroge Nador verweisen auf Huxleys „Schöne Neue Welt“. Interessant ist, dass auch im Roman auf diese Texte verwiesen wird: Arne konfrontiert den ahnungslosen Rob mit Bradbury, Huxley und Orwell: „‘Kenne keinen dieser Autoren‘, sagte ich. Arne nickte. ‚Das kannst du auch nicht. Du wirst keines dieser Bücher bei Ultranetz finden!‘“

Bücher enthalten Wissen und Wissen ist Macht. In der von Martin Schäuble erschaffenen Welt werden alle Bücher zerstört, damit die Menschen als willenlose, konsumbereite Marionetten weiterhin dem gesellschaftlichen System folgen. Schäuble kreiert eine dystopische Welt und eine spannende Geschichte, die den Leser in Atem hält und zugleich vor der unkontrollierten Verwendung von Daten und sozialen Netzwerken warnt – ein höchst aktuelles Thema.

 

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