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Paola Predicatori:
Der Regen in deinem Zimmer
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull.
Berlin: Aufbau 2013
238 Seiten
€ 16,99
Kindle Edition: € 12,99
Junge Erwachsene

Predicatori, Paola: Der Regen in deinem Zimmer

Winter in Zerolandia

von Stephanie Ernst (2013)

Sie ist erst 17 und steht kurz vor ihrem Abitur, als sie ihre Mutter durch ein Krebsleiden verliert: Alessandra, die Protagonistin des Debütromans der italienischen Autorin Paola Predicatori, muss in „Der Regen in deinem Zimmer“ einen für sie beinahe unerträglichen Verlust durchleben. Alessandras Großmutter, die Nonna, ist die einzige, die mit ihr zurückbleibt. Ihren Vater kennt Alessandra nicht, und auch Nonna ist ihr in dieser schweren Zeit nicht wirklich eine Hilfe, denn auch sie ist ganz in ihrer Trauer um die Tochter versunken.

Die junge Frau kann nicht akzeptieren, dass ihr Leben ohne ihre Mutter einfach so weitergehen soll wie bisher. Deshalb setzt sie sich in der Schule nicht mehr zu ihren Freundinnen, sondern ganz abseits in die letzte Reihe zum Außenseiter Gabriele, der von allen nur „Zero“ genannt wird – man hält ihn für eine Null, einen Niemand. Auf diesem Platz zieht Alessandra sich komplett zurück aus ihrem bisherigen Leben in eine Welt, die sie „Zerolandia“ tauft und in der sie ganz für sich allein in liebevollen und schmerzhaften Erinnerungen an ihre Mutter schwelgen kann, in Erinnerungen an die kleinen alltäglichen Dinge, die ihr so fehlen. „Die einzige Regel, die es zu respektieren gilt, ist eisernes mönchisches Schweigen. Will man sich verständlich machen, dann nur mit Zeichensprache oder dem Morsealphabet. Jede Nachricht, jeder Laut aus dem Rest der Welt bricht sich an den Landesgrenzen und erreicht einen wie ein Windstoß, der über Ödland geht.“

Alessandra wird sogar von Zero, der mindestens genauso einsam ist wie sie, vollkommen ignoriert. Er zeichnet lieber auf seinem Block, als dem Unterricht zu folgen. Dann, an einem Abend, an dem Alessandra betrunken auf einer Party zusammenbricht, wird ausgerechnet er zu ihrem Retter in der Not. In der Folge nähern sich die beiden ganz langsam einander an. Alessandra erkennt, dass dieser schweigsame Junge mit dem großen Zeichentalent viel mehr Einfühlungsvermögen hat als ihre anderen Mitschüler, die ihr nur noch als oberflächlich erscheinen. Von den Jungs aus ihrer Klasse bekommt sie den Spitznamen Zeta: „Zero und Zeta, das superkrasse Pärchen: der unsichtbare Junge und das Schattenmädchen, zwei echte Stimmungskanonen, so viel steht fest.“ Sie selbst sieht sich als Königin von Zerolandia, neben Zero, dem Herrscher. Doch da sowohl Alessandra als auch Zero in ihrem Leben schon einige schlimme Dinge erlebt haben und sehr mit ihren persönlichen Problemen beschäftigt sind, finden sie an vielen Punkten ihrer zarten, geheimen Liebesbeziehung nicht den Mut, sich dem anderen gegenüber zu öffnen. Doch durch Gabriele und auch durch die besten Freundinnen ihrer Mutter findet Alessandra langsam Kraft, sich wieder etwas ihrem alten Leben anzunähern.

Die Autorin lässt die Protagonistin Alessandra ihre Erlebnisse und Gefühle nach dem Tod der Mutter wie in einem Tagebuch festhalten, einen ganzen Winter lang. Das Erzählte ist dabei wie ein innerer Monolog, in dem sich Alessandra zunächst konkret an ihre Mutter zu richten scheint: „Jetzt, wo du nicht mehr da bist, erscheint alles, was ich früher gemacht habe, völlig sinnentleert, wie eine auswendig gelernte Rolle, die keine Improvisation mehr zulässt“. Alessandra beschreibt ihre Wut auf das Leben, ihre Einsamkeit und ihre Freunde, mit denen sie nichts mehr anfangen kann. Und sie schreibt über Zero, den Einzigen, der sie ein bisschen versteht – ganz ohne Worte. Später ist mit dem angesprochenen „Du“ dann auch Zero gemeint: „An was denkst du, Zero, während wir schweigend nebeneinander hergehen, du mit deiner Zigarette, ich den Blick mal zum Himmel, mal auf meine Schuhspitzen gerichtet?“

Die Tagebuchkapitel sind sehr kurz, und anfangs gibt es lange zeitliche Lücken zwischen den Einträgen: Es wird deutlich, wie sehr die Trauer um ihre Mutter Alessandra lähmt. Im Laufe der Geschichte und mit zunehmender Annäherung Alessandras und Gabrieles werden die Zeitabstände zwischen den Einträgen dann kleiner. Der Winter, in dem sich die Geschichte abspielt, ist dabei eine Metapher für die Trauer des Mädchens: In dieser grauen, kalten Zeit wendet Alessandra sich von ihrem alten Leben und ihren Freunden ab, zieht sich in sich selbst zurück und gibt sich ganz ihrer Einsamkeit hin. So heißt denn auch der Originaltitel: „Il mio inverno a Zerolandia“ – „Mein Winter in Zerolandia“.

Eingefügt zwischen diese – jeweils mit Datum überschriebenen – Kapitel finden sich Kapitel, die sich von den Tagebucheinträgen unterscheiden: Hier scheint sich Alessandra noch deutlicher an die Mutter zu richten. Dies wird bereits in den andersartigen Überschriften deutlich. So heißt beispielsweise ein Kapitel „Aufzählung der Dinge in deinem Zimmer“, ein anderes „Als ich dich gebadet habe“. Um alles ganz genau festzuhalten und ihre Trauer zu bewältigen, vergegenwärtigt sich Alessandra darin mit ausdrucksstarken Worten sehr detailreich ihre Erinnerungen: die schönen aus ihrer Kindheit, die schlimmen während der Krankheit – und auch ihre Selbstvorwürfe, nicht immer die perfekte Tochter gewesen zu sein, kommen zur Sprache. Sie will sich in diesen Momenten bewusst erinnern, versteht viele Dinge nun besser als früher und bewertet ihr eigenes Verhalten neu. Solche Erinnerungsanlässe sind oft persönliche Gegenstände ihrer Mutter – wie zum Beispiel ein Schirm, der, irgendwann verliehen, von einer Freundin zurückgebracht wird. Eine leichte, oft auch (selbst-)ironische Sprache und zum Teil ‚merkwürdige‘ Sprachbilder erheitern und bieten Entlastung, so dass man als Leser trotz des traurigen Themas über der Lektüre nicht schwermütig wird.

Irgendwann dann, als sie nach Hause kommt, fällt Regen durch ein offenes Fenster ins Zimmer der Mutter. Alessandra lauscht „dem leisen Rascheln der wehenden Gardine und spürt[e], wie die hereinströmende Luft jeden Gegenstand umspielt[e], als hätte alles wieder zu atmen begonnen.“ Der ‚Geruch‘ der Krankheit ist nun verschwunden, und Alessandra kann endlich wieder zu leben beginnen.

Paola Predicatori schreibt auf eine sehr berührende Weise über den Tod und eine Trauer, mit der viele Menschen wahrscheinlich ähnlich umgehen würden. Sich zurückziehen, niemanden mehr an sich heranlassen und gleichzeitig eine Hoffnung in sich tragen, dass man verstanden wird – für Alessandra ist Gabriele dieser verständnisvolle Mensch, der sie auffängt ohne nachzufragen, bei dem sie sich schließlich fallen lassen kann und nicht mehr ganz so einsam ist. Doch immer wieder hat sie auch das Gefühl, dass sie Gabriele gleichgültig ist. Beide stecken so in ihren eigenen Welten fest, dass sie einander oft nicht ‚richtig‘ verstehen.

Dies führt dazu, dass sich Alessandra zwischenzeitlich einem anderen zuwendet –und es kommt zu einem Ereignis, das Alessandras chaotische Welt noch einmal komplett auf den Kopf stellt. Mit niemandem kann sie darüber reden, auch nicht mit Zero. Nur ihre Mutter hätte ihr helfen können. Erst nach einer ganzen Weile schafft Alessandra es, sich Gabriele zu offenbaren, und dann zieht er plötzlich weg – nach Amsterdam.

Das Ende bleibt offen, aber lässt doch hoffen, dass die Trauer überwunden wird und Alessandra schließlich doch noch mit Gabriele zusammen sein kann. „Die Luft ist heute so grau und dünn, als wäre ein neuer Winter angebrochen, dabei ist seit zwei Tagen Frühling. Ich atme tief ein und denke, dass du mich nicht vergessen, nicht ausradiert hast. Seit heute ist Frühling.“ Die ‚Kälte‘ des Winters von Zerolandia schwindet nach und nach, und das Leben kann aufblühen, denn im Frühling wird alles leichter.

„Der Regen in deinem Zimmer“ ist ein Buch mit Tiefgang, das tief im Herzen berührt und anregt darüber nachzudenken, welche Werte im Leben wirklich zählen – und auch, welche nicht.

 

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