Matti, Truus: Apfelsinen für Mister Orange
Victory Boogie Woogie
Jana Nickholz (2013)
1943, New York: Linus‘ großer Bruder Apke ist gerade in den Krieg gegen Hitler gezogen, und Linus ist deswegen sehr stolz auf ihn. Er kann nicht verstehen, warum seine Eltern das Banner mit dem blauen Stern nicht in ihr Schaufenster hängen, um damit allen zu zeigen, dass eines ihrer Kinder im Krieg die Freiheit verteidigt. Ihre Begründung, Flaggen seien für Feste da, und der Krieg sei kein Fest, bleibt für den Dreizehnjährigen längere Zeit unbegreiflich.
Dadurch, dass der älteste Sohn mit gerade einmal achtzehn Jahren die Familie verlässt, ändern sich die Aufgaben der Geschwister: Linus tritt in die Fußstapfen seines Bruders Simon und ,erbt‘ somit nicht nur dessen Schuhe, sondern auch dessen Job als Laufbursche des elterlichen Ladens. Er liefert nun regelmäßig eine Kiste Apfelsinen an „Mister Orange“, einen neuen Kunden, dessen wirklichen Namen er nicht behält. Der ungewöhnliche, schon ältere und offenbar kränkliche Mann spricht mit Akzent, ist groß und schmal gebaut und hat durch seine scharfe Nase „eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Vogel“. Linus merkt schnell, dass er nicht wie die anderen Kunden ist: So zeigen zum Beispiel seine Wohnungseinrichtung und auch die ungewöhnliche weiße Wandfarbe keinerlei Parallelen zu dem, was Linus kennt. Doch besonders sind es die geometrisch-abstrakten Bilder, die den Jungen faszinieren – Mister Orange ist nämlich Künstler. Die beiden reden viel über den Krieg und die Kunst. Linus stellt Fragen mit fast philosophischem Hintergrund, Fragen, die ihm bislang unbeantwortet geblieben sind. In den Gesprächen wird immer wieder deutlich, dass Mister Orange den Kampf für die Freiheit unterstützt. Er hinterfragt nicht, ob der Krieg an sich überhaupt notwendig sei, sondern er vertritt ganz klar seine Meinung: „Und doch ist Zurückschlagen die einzige Möglichkeit“. Der Künstler erklärt Linus, dass jeder so kämpfe, wie es ihm möglich sei. Als Künstler ‚wehre‘ sich Mister Orange mit seinen Bildern, während Linus‘ Bruder Apke als Soldat an der Front kämpfe.
In seiner Fantasie wird Linus dabei lange Zeit von dem Comic-Helden „Mister Super“ begleitet, einer Figur, die sich Apke ausgedacht und in vielen Zeichnungen festgehalten hat. Im imaginierten Zwiegespräch verspricht der Superheld Linus, den Bruder zu beschützen, und er ist immer zur Stelle, wenn Linus Hilfe braucht. Als Linus aber durch schlechte Nachrichten in Sorge um Apke gerät, erschrickt ihn die Realität des Krieges: Heimlich liest er einen Brief des Bruders von der Front, und durch dessen Schilderungen erhält der Junge einen Einblick in eine ihm bisher unerkannte Welt. Zwar ist es nur ein kleiner Ausschnitt, der sich ihm eröffnet, doch wird Linus klar, dass es sich bei dem Krieg in Europa um einen anderen handelt, als den, den er sich mit Mister Super ausgemalt hat. Bis zu diesem Punkt der Geschichte sieht Linus den Fantasiehelden als wahre Hilfe an, die „Granaten fängt“ und die Feinde stets unter Kontrolle hat. Der Krieg wirkt bis dahin „wie ein Kinderspiel“. Als Linus erfahren muss, dass der Kampf auch Opfer einfordert, fürchtet er um seinen Bruder und hadert.
Er tritt nun auch Mister Orange sehr kritisch gegenüber – schließlich ist auch der von der Notwendigkeit überzeugt, gegen Hitler zu kämpfen. Linus führt ein ernstes und emotionales Gespräch mit dem Künstler, in dessen Verlauf auch ihm klar wird, dass man für seine Freiheit kämpfen muss – selbst wenn Menschen ihr Leben dabei verlieren. Die Fantasie ist dabei durchaus ein wichtiges Mittel, denn ohne das Vertrauen in den Frieden könnte es keinen Widerstand gegen den Krieg geben. Das aufwühlende Gespräch soll Linus‘ letzte Unterredung mit Mister Orange sein, denn kurz nach diesem Besuch stirbt der Künstler in seinem Atelier.
Die niederländische Autorin Truus Matti hat lange in verschiedenen Verlagen als Lektorin und Herstellerin gearbeitet. Seit ihrem Romandebüt 2007 widmet sie sich ausschließlich dem Schreiben für Kinder. Sie schafft es, in ihrem neuesten Werk „Apfelsinen für Mister Orange“ dem Thema Krieg neue Facetten für das Kinderbuch abzugewinnen. Der Kampf als unumgänglicher, auch Opfer fordernder Weg, die Freiheit zu verteidigen, ist als Thema für ein Kinderbuch ungewöhnlich: Linus zeigt aus Unwissen zunächst eine sehr euphorische Einstellung zum Krieg, hadert dann mit dieser Position und erscheint zum Schluss deutlich aufgeklärter. Matti gelingt es, diese tiefgründige Geschichte für die jungen Adressaten in einfacher, nachvollziehbarer Sprache zu gestalten.
Ein weiteres zentrales Thema der Geschichte ist die Kunst und die Bedeutung der Vorstellungskraft. Erst im Paratext wird dem Leser explizit offenbart, dass es sich bei der Figur des „Mister Orange“ um den berühmten Maler Piet Mondrian handelt. Wer mit Mondrians Werken vertraut ist, wird dieses ,Rätsel‘ deutlich früher lösen: In intensiven Beschreibungen der Bilder und Einblicken in die Produktion seiner Werke, auch in der Darstellung seines Äußeren ist der Maler klar wiederzuerkennen. Da dies jedoch nur der mit Mondrians Werken vertraute Leser erkennen kann, liefert Matti im Anhang aufschlussreiche Zusatzinformationen, in denen nicht nur Hintergrundinformationen zu der Person Mondrians, seinem Leben in New York und seinen Werken gegeben, sondern auch Museen benannt werden, in denen man seine Arbeiten ansehen kann. Darüber hinaus geht Matti im Nachwort auf die Bedeutung der US-Superheldencomics in der Zeit des Krieges ein; man erfährt etwas über ihre Verbreitung und ihre ideologisch stabilisierende Funktion.
Rot, Gelb und Blau – die „Farben der Zukunft“, wie sie der Maler selbst nennt – verkörpern das bewegte New York, die „Stadt der Zukunft“. Durch Mister Orange kommt Linus auch in Kontakt mit dem neu aufkommenden Musikstil Boogie Woogie, und es entsteht auch beim Lesen ein Gefühl von Beschwingtheit. Linus beschreibt diese Art von Musik als „Musik, die zu den Farben passte, die die Flächen tanzen ließ“. Mister Orange erklärt ihm, wie wichtig Ideen auch in Bezug auf den Krieg seien. „Alles beginnt mit der Vorstellungskraft“, sagt er, und diese sei die Basis, um sich zu wehren. Schließlich könne man nur für etwas kämpfen, was man sich vorstellen könne. Die Beschreibung der geometrischen Strukturiertheit der Werke Mondrians und der Musikalität des Boogie Woogie verleihen dem Buch etwas Besonderes. Wenn Matti dann die Werke des als ‚entartet‘ geschmähten Künstlers Mondrian gleichzeitig als Protest gegen die Nazis darstellt, gelingt ihr eine beeindruckend facettenreiche Komposition.
Die Geschichte ist in drei Teile gegliedert. Sie beginnt und endet im März 1945. Eingefügt ist eine Rückblende auf das Jahr 1943, in dem sich die Geschichte von Linus und Mister Orange ereignet. Am Anfang der Rahmenerzählung sieht Linus ein Plakat, auf dem eine Ausstellung zum Gedenken an den Maler angekündigt wird. Im letzten Teil der Geschichte besucht der Junge die Ausstellung. Er versteht nun, dass Mister Orange in seiner Kunst weiter leben wird, und betrachtet endlich dessen letztes, nicht vollendetes Werk „Victory Boogie-Woogie“ – ein rautenförmiges Bild, das er bei seinen Besuchen immer nur von hinten gesehen hat. Ihm wird klar, was der Künstler mit dem Protest durch Kreativität gemeint hat. Linus meint, die starken Farben des Bildes und die Dynamik der Musik spüren zu können: Das Bild versetzt den Betrachter in den Glauben, der Krieg sei bereits zu Ende, obwohl er zum Entstehungszeitpunkt noch angedauert hat. „So viel Vertrauen hatte er in den Sieg gehabt.“
Die Beschreibung von Mondrians Werken sind sprachlich sehr einfach gehalten. Matti durchmischt ihre fiktionale Erzählung mit faktualen Momenten, die für jüngere Leser allerdings wohl nicht zu erkennen sein dürften. Sowohl Piet Mondrian, seine Werke und seine Lebensgeschichte als auch Mondrians Freund und Nachlassverwalter Harry (Holtzman) sind der Realität entnommen; der Fotograf Fritz Glarner tritt zwar als Person auf, wird aber nicht einmal mit dem Vornamen eingeführt. Die behandelten Themen sind zwar einfach formuliert, um sie aber in ihrer Fülle und im Zusammenspiel untereinander zu entschlüsseln, erfordert es einen genauen Blick. Kinder ab zehn Jahren wird dieses Buch zwar fordern, aber auch motivieren, die Dimensionen zu erfassen.
„Apfelsinen für Mister Orange“ wurde zweifellos zu Recht mit dem Silbernen Griffel, dem berühmten niederländischen Literaturpreis, ausgezeichnet. Das Kinderbuch geht das Thema Krieg insofern neu an, als dass es jenseits der üblichen Kinderbuch-Urteile verschiedene Perspektiven im Hinblick auf die mögliche Notwendigkeit von Krieg bietet. Es thematisiert, wie wichtig es ist, Fragen zu stellen, kritisch zu denken und vor allem: für die Freiheit zu kämpfen.