Bronsky, Alina: Nenn mich einfach Superheld. Roman
Superheld in der ‚Krüppeltruppe‘
von Nadine Bieker (2013)
Bis zu seinem siebzehnten Lebensjahr ist Marek ein vom Schicksal verwöhnter Junge gewesen. Er hatte eine Freundin und viele Kumpels, war das Gesicht jeder Aufführung seiner Theatergruppe. Nun ist Marek neuestes Mitglied einer „gottverdammte[n] Selbsthilfegruppe für Krüppel mit einem armseligen Alleinunterhalter an der Spitze“. Warum? Sein Gesicht wurde von einem Rottweiler ‚zerfetzt‘.
Unter dem Vorwand, es handele sich um eine Lerngruppe für das Abitur, hat Mareks Mutter ihn in die vermeintliche Selbsthilfegruppe ‚geschleust‘. Seit dem Angriff des Rottweilers – Marek hatte sich schützend vor seine Freundin gestellt – verlässt der junge Mann das Haus nur noch nachts und mit Sonnenbrille. Tagsüber schläft er oder beobachtet seine Fische, wenn er nicht gerade in seinem klinischen Wörterbuch liest („Ich interessiere mich für Defekte.“). Marek lässt jegliche sozialen Kontakte schleifen und nimmt zunehmend misanthropische Züge an, vor allem aber versinkt er in Selbstmitleid.
Neben Marek nehmen an den regelmäßigen Gruppentreffen teil: ein ‚Schneewittchen‘ im Rollstuhl, ein blinder Schönling, ein sportlicher Typ mit Beinprothese, ein übergewichtiger Rothaariger, dessen innere Organe auf Grund einer Autoimmunerkrankung langsam den Geist aufgeben, und Kevin, dessen Behinderung niemand wirklich kennt („Er ist eben ein Psycho. Angeblich ist er schon mal auf jemanden losgegangen, weil er Stimmen gehört hat. Außerdem ist er eine Tunte; ich weiß auch nicht, wie das zusammenhängt.“).
Nun sitzen diese sechs Jugendlichen im Stühlchenkreis, erkennen, dass es sich wohl um eine Selbsthilfegruppe handelt, denn „Friedrich war der Einzige, der sich angemeldet hatte, um, wie er sagte, Kontakt zu anderen Behinderten zu bekommen“, und sollen ihre Persönlichkeit trommeln. Man ahnt schon: Das Ganze ist zum Scheitern verurteilt. Und so beschließt der „Guru“, der die Gruppe leitet, dass alle eine gemeinsame Reise unternehmen werden. Allerdings wird auch diese das reinste Chaos: Der blinde Marlon und Marek kämpfen um die Gunst der schönen Janne, Marlon schubst Marek die Treppe hinunter, und gemeinsam mit dem Guru ertränken alle ihren Frust in Wein. Zu guter Letzt bekommt Marek eine Nachricht seines kleinen Halbbruders, dass ihr gemeinsamer Vater tödlich verunglückt sei. So überschlagen sich die Ereignisse und enden in einer ziemlich wodkalastigen Trauerfeier.
Die Autorin Alina Bronsky lässt in ihrem neusten Roman „Nenn mich einfach Superheld“ ganz schön Tempo aufkommen. Es gibt immer wieder Szenen, die die vorherigen an Absurdität und Skurrilität überbieten, deren Situationskomik noch derber und noch amüsanter ist. Vor allem die vielen kurzen Dialoge haben es in sich: „,Beziehungen‘, sagte der Guru verträumt, ‚sind schon für uns Normale nicht einfach. Da müsst ihr ja ganz schön verzweifeln.‘“ oder „‚Man kann hier überhaupt nicht in Ruhe trauern‘, sagte ich. ‚In jeder Ecke sitzt ein Behinderter.‘ ‚Behindert bist hier nur du.‘ Sie richtete den Zeigefinger wie einen Pistolenlauf auf mich. ‚Und zwar im Kopf.‘“ Manche Szenen lässt Bronsky in Ellipsen enden – vor allem, wenn es um den Angriff des Rottweilers geht. Marek verlässt dann schlichtweg immer den Raum, wenn er berichten soll, was geschehen ist. Aber auch die Frage, wie sein Gesicht denn nun wirklich aussieht, bleibt bis zuletzt ungeklärt.
Gleichzeitig bedient sich Bronsky einer sehr direkten Sprache und einer großen Portion schwarzen Humors. Da Marek selbst seine und die Behinderungen der anderen als Angriffspunkt für zahlreiche derbe Kommentare nutzt, muss auch der Leser von Beginn an immer wieder laut lachen, und es ist erfrischend, wie Bronsky mit dem Thema Behinderung umgeht – sie nimmt es einfach nicht so ernst. Das ist aber kein moralisches Manko, denn sie lässt die Jugendlichen mit den ganz normalen Problemen von Teenagern kämpfen und gibt dem Leser dabei das Gefühl, dass es nicht schlimm ist, manchmal nicht mehr oder weniger Mitleid mit ihnen zu haben als mit anderen, ‚normalen‘ Jugendlichen.
All dies führt dazu, dass „Nenn mich einfach Superheld“ durchweg amüsant bleibt, sich bis ins Absurde steigert, der Leser aber trotzdem eine Idee bekommt, wie sich die Jugendlichen mit ihren Behinderungen fühlen.
Mit dem Tod des Vaters wird ein neuer Handlungsstrang eröffnet, der den Fokus nun zunächst von der „Krüppeltruppe“ wegnimmt: Marek reist zu seiner Stiefmutter Tamara, die sein ehemaliges ukrainisches Au-Pair-Mädchen ist, und deren Sohn Fredi, seinem Halbbruder. Auch Mareks eigene Mutter Claudia ist angereist, um mit Tamara die Trauerfeier zu planen. Von nun an überschlagen sich die Ereignisse: Mareks Mutter muss in die Schweiz reisen, um den Vater zu identifizieren, damit er in Deutschland bestattet werden kann. Während ihrer Abwesenheit geht Marek mit seiner Stiefmutter ins Bett, schließlich ist diese keine zehn Jahre älter als er. Nach der Überführung nach Deutschland verabschieden sich Mareks Stiefmutter und sein Halbbruder mit zahlreichen Küssen von dem verstorbenen Vater und versuchen, den Leichnam in eine ‚angenehmere‘ Position legen. Schließlich reist aus der Ferne Tamaras Mutter an, um auf der Trauerfeier angetrunken mit einem Akkordeon auf dem Küchentisch Musik zu machen. Und dann taucht auch noch der Guru samt Behindertentruppe auf, um an der Beerdigung teilzunehmen, während Mareks Mutter mit Tamaras Mutter darum wetteifert, wem die Organisation der Trauerfeier am besten gelinge. Als Marek schlussendlich noch eine Videoaufnahme des Gurus findet, in der der Guru behauptet, dass er der Vater von jedem der Behinderten sei, womit alle Mitglieder der „Krüppeltruppe“ Geschwister wären, fragt man sich, ob das alles nicht ein bisschen viel ist und nicht doch vom Wesentlichen zu sehr ablenkt.
„Nenn mich einfach Superheld“ erzählt die Geschichte eines Siebzehnjährigen, der in seinem bisherigen Leben vor allem mit seinem hübschen Gesicht und seinem Lächeln gepunktet hat und der nun, da sein Gesicht ‚ruiniert‘ ist, in Selbstmitleid versinkt. Als er anfangs angeblich widerwillig, am Ende aber doch ganz freiwillig, immer wieder zu der Selbsthilfegruppe geht, fängt es in ihm an zu rattern: Aus Momenten des Selbstmitleids werden nachdenkliche Momente, Momente der Einsicht, dass alles gar nicht so schlimm ist. Er denkt über seine Zeit als Schönling nach und fragt sich „Hätten sie mich nicht eigentlich hassen müssen?“, denn er hat auf Grund seines Aussehens immer im Mittelpunkt gestanden, ohne viel dafür zu leisten. Durch die anderen Jugendlichen und vor allem durch die bezaubernde Janne wird ihm immer bewusster, „dass der Mensch mehr [ist] als seine Hülle.“
Alina Bronsky hat einen herrlich sarkastischen, aber zugleich ernsten Coming-of-age-Roman geschaffen, bei dem der Protagonist am Ende dem Erwachsensein ein großes Stück näher kommt. Marek überwindet sein Selbstmitleid und schaut zuletzt nun doch wieder in Spiegel. Er schafft es, seinem Leben wieder einen Sinn zu geben, und sieht ein, dass ein, wie auch immer, verunstaltetes Gesicht nicht das Ende der Welt ist. Ganz im Gegenteil: Er erkennt, dass es auf die Taten ankommt, die man vollbringt, und dass die Anerkennung dafür deutlich schöner ist als die für ein hübsches Gesicht.
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