Brooks, Kevin: Live Fast, Play Dirty, Get Naked. Roman
Unverhüllt, offen – und unbewaffnet?
Anna K. Schwartz (2013)
Mitte der 1970er Jahre entwickelt sich eine neue Jugendkultur in und um Vivienne Westwoods und Malcolm McLarens berüchtigter Szene-Boutique SEX in der Londoner King’s Road. Mittendrin in dem Geschehen ist Lili Garcia, die jugendliche Protagonistin aus Kevin Brooks neuestem Werk „Live Fast, Play Dirty, Get Naked“.
Im Jahr 2011, dreieinhalb Jahrzehnte später, erzählt Lili rückblickend die Geschichte, die ihr Leben formen sollte. Vorher konnte sie über die Ereignisse nicht reden – sie hatte ein Versprechen abgegeben. Die Erzählung der nun 51-Jährigen beginnt im Juli 1975, als Lili Curtis, ihren ersten Freund, kennenlernt. Es folgen turbulente Monate, in denen Lili Bassistin in einer Punkband wird, sie ihre große Liebe William trifft und durch ihn mehr über den Nordirlandkonflikt erfährt, als ihr lieb ist. Ihren tragischen Höhepunkt erreicht die Geschichte im September 1976.
Mit fünfzehn ist Lili ein verantwortungsbewusstes, eher braves und unsicheres Mädchen. Sie wächst in dem wohlhabenden Stadtteil Hampstead im Norden Londons auf und besucht eine Privatschule. Sie ist eine leidenschaftliche und begabte Klavierspielerin. Dadurch wird Curtis Ray auf sie aufmerksam. Curtis, der Mädchenschwarm, ist der coolste Typ ihrer Schule und wirbt Lili im Juli 1975 als neue Bassistin für seine Band Naked an. Dass Lili noch nie einen Bass in der Hand gehalten hat, spielt für Curtis keine Rolle, er spürt, dass es Lili mit der Musik ernst meint.
Lili wird nicht nur neuestes Mitglied von Curtis‘ Band, sondern auch bald seine feste Freundin. Zusammen mit ihm besucht sie fortan alle wichtigen Orte der gerade aufkeimenden Londoner Punk-Szene. Curtis ist fasziniert von der neuen, schnellen, lauten und schmutzigen Musik – und auch von der provozierenden Szene um Malcolm McLaren, Johnny Rotten, Sid Vicious & Co. Für die Musik begeistert sich Lili zwar ebenso, doch fühlt sie sich unter der für sie schockierenden, anstößigen Punkelite meistens fehl am Platz. Auch dass Curtis sich mehr und mehr den Drogen hingibt, gefällt ihr nicht, erst recht nicht, dass er auch sonst nichts ‚anbrennen’ lässt.
Als Naked im Februar 1976 einen neuen Rhythmusgitarristen anwirbt, geht es mit der Band innerhalb weniger Monate richtig aufwärts: größere Auftritte, mehr und mehr Berichterstattung in den wichtigsten Musikzeitschriften und dann tatsächlich der ersehnte Plattenvertrag. Lili ist von Anfang an von dem neuen Gitarristen fasziniert. Langsam entwickelt sich eine Dreiecksgeschichte zwischen ihr, Curtis und dem verschlossenen 16-jährigen William Bonney aus Belfast. Nicht nur wegen Lili betrachtet Curtis William als Konkurrenten. Der junge Ire ist ein begnadeter Musiker und die Presse liebt ihn. Auch durch seine geheimnisvolle Art – vor Kameras wendet William stets sein Gesicht ab und Journalisten gegenüber gibt er sich wortkarg – stiehlt er Curtis zunehmend das Rampenlicht.
Williams Schweigsamkeit und Versteckspiel haben jedoch einen traurigen Grund, den er Lili eines Abends anvertraut: Seine Mutter wurde vor den Augen der Familie von einem Polizisten erschlagen, der die protestantischen Milizen bei der Suche nach vermeintlichen Terroristen unterstützte. Aus Rache und Verzweiflung schloss sich Williams Vater daraufhin der provisorischen IRA an. Als er sich aber dann in eine Protestantin verliebte und versuchte, der Terrororganisation zu entkommen, wurde er verraten und von seinen ‚eigenen‘ Männern exekutiert. Die Freundin des Vaters floh daraufhin mit William und dessen kleinem Bruder nach London, wo sie nun unter anderen Namen leben. Lili darf dieses Wissen mit keinem teilen, denn Nancy (wie sich die Freundin von Billys Vater nun nennt) wird immer noch von der IRA gesucht. So verspricht Lili William, dieses Geheimnis zu hüten, bis Nancy nicht mehr lebt.
Dass auch William selbst tief in den Nordirlandkonflikt verwickelt ist, merkt Lili, als er vor einem wichtigen Auftritt nicht erscheint. Sie begibt sich auf die Suche nach ihm und macht eine erschreckende Entdeckung, die sie – zurecht – befürchten lässt, dass sich das Schicksal des Vaters bei William wiederholen könnte.
Im Zentrum von Lilis Leben steht in jenen Monaten jedoch die Londoner Punk-Szene, die Kevin Brooks selbst aus seiner eigenen Jugend kennt und lebhaft schildert. Dem Autor gelingt es, die Anfänge der Punk-Bewegung in ihrer ganzen Faszination darzustellen, ohne sie jedoch zu verherrlichen. Die negativen Seiten, Drogen, Gewalt und Ruhm, werden ebenso eindringlich beleuchtet wie die positiven Seiten: die Liebe zur Musik, das Spielen in einer Band und das Verfolgen eines Traums. Kevin Brooks reiht dabei die fiktive Band Naked neben Größen wie den Sex Pistols und The Clash in authentische Schauplätze mit ein. Viele der beschriebenen Personen, Orte und Bands werden historisch korrekt dargestellt. Selbst einzelne Auftritte, wie die des 100 Club Punk Festivals, haben wie von Brooks geschildert stattgefunden – mit einer Ausnahme: dem Auftritt von Naked.
Im zweiten Teil des Buches ändert sich nicht nur die Figurenkonstellation – Lili hat sich von Curtis ab- und William zugewandt –, sondern parallel dazu wird auch das Thema Punk weitgehend in den Hintergrund gedrängt. Durch Ihre Liebe zu William wird die vorher politisch desinteressierte Lili gezwungen, sich mit dem Nordirlandkonflikt auseinanderzusetzen. Der Bürgerkrieg wird von seinen dunkelsten Seiten geschildert, ohne dabei Motive und Einzelschicksale außer Acht zu lassen: Die Perspektiven der Täter und der Opfer werden beleuchtet und die Perspektiven derer, die beides sind. Oft stellt man sich als Leser dabei die Frage, woher die bis dahin politisch ahnungslose und unbedarfte Lili ihre Einschätzungen nimmt.
Die Herausforderung, die heterogenen Themen Punk und Nordirlandkonflikt in einem Roman unterzubringen, versucht Brooks zu bewältigen, indem er sie überwiegend nebeneinander bzw. nacheinander zur Sprache bringt, anstatt sie eng miteinander zu verweben. Während die Punk-Szene ausführlich, gleichsam semidokumentarisch beleuchtet wird, schreibt Brooks über den Bürgerkrieg gerade nur so viel, wie für die Romanhandlung nötig ist; politische Hintergründe und Konstellationen werden nicht aufgezeigt. Für Lilis Coming-of-Age sind jedoch beide Handlungsstränge bedeutend.
„Naked“ ist nicht nur der englische Original-Buchtitel, der Name der Band und der Titel von deren Erkennungslied. ‚Naked‘ (zu Deutsch: nackt, unverhüllt, offen oder auch unbewaffnet) werden auch Lilis Gedanken und Gefühle präsentiert. Hautnah erfährt der Leser, wie und warum sie sich von einem unschuldigen, liebebedürftigen Mädchen zu einer starken und kritischen jungen Frau entwickelt. Brooks lässt Lili in dem Roman lieber zu viel als zu wenig erklären. Der Leser kann ihre Gedankengänge genauestens nachvollziehen, es gibt kaum Spielraum für Interpretation. Manchmal erzählt Lili sogar Details aus den Leben der anderen, wobei man sich fragt, woher sie diese kennt. Auch vergisst man bei den detailreichen Schilderungen leicht, dass die Geschichte von der 51-jährigen Lili erzählt wird und nicht von dem Teenager Lili. Eine zeitliche Distanz ist nur selten zu spüren.
Das Buch ist geprägt von Gegensätzen und Extremen und von ersten und letzten Malen. Manchmal entsteht das Gefühl, Brooks übertreibe es mit den Erlebnissen seiner Charaktere – vor allem das Ende grenzt nah an Kitsch. Dennoch passt das Dramatische zum Inhalt des Buchs: Ohne die Überdosis an Ereignissen und Erläuterungen könnte man nicht fühlen, was Lili fühlt, nicht mit ihr lieben, nicht mit ihr trauern – und sich nicht bildlich vorstellen, man befände sich in London im Jahr 1976.
„Live Fast, Play Dirty, Get Naked“ ist ein (kultur-)historischer, auch politischer Coming-of-Age-Roman und darüber hinaus eine berührende Liebesgeschichte. Das Buch ist Jugendlichen ab zwölf Jahren zu empfehlen und auch Erwachsenen – ganz egal, ob „Protestant oder Katholik, Rangers- oder Celtic-Fan, Punk oder Skinhead, schwarz oder weiß, orange oder grün.“